CONNECT – Das Publikum als Künstler
10 Fragen an Philip Venables und Oscar BianchiDas Publikum als Künstler? Bei ›CONNECT‹ wird das Publikum essentieller Teil des musikalischen Geschehens, Hierarchien zwischen Publikum und Interpreten werden hinterfragt und aufgelöst. Die europaweite Initiative CONNECT, ermöglicht durch die Art Mentor Foundation Lucerne, wurde 2016 in Kooperation vier führender Ensembles zeitgenössischer Musik – Ensemble Modern, London Sinfonietta, Asko|Schönberg und Remix Ensemble – ins Leben gerufen und erstmals durchgeführt. 2018, in seiner zweiten Auflage, ergingen die Kompositionsaufträge an den britischen Komponisten Philip Venables und den italienisch-schweizerischen Komponisten Oscar Bianchi. In Frankfurt sind die interaktiven Auftragskompositionen am 22. April 2018 im Frankfurt LAB mit dem Ensemble Modern als Deutsche Erstaufführung bzw. Uraufführung zu erleben. Während Philip Venables das Publikum zu Kandidaten einer TV-Show ernennt und mit seinem politisch brisanten Stück ›The Gender Agenda‹ traditionelle Geschlechterrollen auflöst, bezieht Oscar Bianchi das Publikum als Klangerzeuger mit ein. Das Ensemble Modern stellte den beiden Komponisten 10 Fragen zur Herangehensweise an die Aufträge, dem Einbezug des Publikums sowie ihren Erwartungen an dieses außergewöhnliche Projekt.
›connect – das Publikum als Künstler‹ lautet der Titel des Projekts. Die Grenzen zwischen Interpret und Zuhörendem verschwimmen. Was bedeutet das für Ihre Rolle als Komponist? Was hat Sie an dem Projekt interessiert?
Venables: Mein Ansatz war eher, mir den Untertitel als »das Publikum als Motiv« anstelle von »als Künstler« vorzustellen. Ich bin schon lange ein Fan von kollaborativem Theater, das mit dem Publikum interagiert, also Theatererlebnisse schafft, in denen die Zuschauer zu Protagonisten des Dramas werden. Da ich mich auch sehr für politisch engagierte Musik und Musiktheater interessiere, bringe ich hier Elemente aus beiden Bereichen zusammen. Ich möchte wissen, was das Publikum zum Thema Gender in der heutigen Gesellschaft denkt, und daraus ein unterhaltsames, ansprechendes, interaktives Stück machen.
Bianchi: In der jüngeren Vergangenheit arbeitete ich u.a. an Musiktheaterwerken, an denen nicht exklusiv professionelle Musiker (z.B. Tänzer oder Schauspieler) beteiligt waren. Hier begegnete mir die Notwendigkeit, von »Nicht-Profis« die Produktion von Lauten und musikalischen Inhalten zu verlangen, die sowohl hochwertig (wie es meine eigenen Maßstäbe als zeitgenössischer Komponist verlangen) wie auch dramaturgisch wertvoll sind. Damit fällt das Projekt ›connect‹ in eine Zeit, in der ich ohnehin meine Rolle als Komponist in solchen besonderen Kontexten untersuchen und neu definieren möchte – sprich, in solchen performativen Umfeldern, in denen die Protagonisten, die Klang produzieren, nicht nur professionelle Musiker sind, sondern auch das Publikum im Allgemeinen – und mich davon auch inspiriert fühle.
Arbeiten Sie während des Kompositionsprozesses mit den vier Ensembles zusammen? Wenn ja, wie?
V: Momentan arbeite ich vor allem mit der London Sinfonietta zusammen, um die technische Seite des Projekts zu klären. Ich hoffe, bald mit den »Moderatoren« für jedes Ensemble zu arbeiten, sobald diese feststehen, und mit ihnen Texte zu erschaffen, die zu ihnen passen. Jeder Moderator soll genug Freiraum haben, seine eigene Persönlichkeit und den eigenen Humor im Stück zu entfalten.
B: Ja, auf jeden Fall. Obwohl alle vier Ensembles letztlich dasselbe Stück aufführen, werden einige Faktoren zu sehr unterschiedlichen Erfahrungen führen. Es ist dabei nicht irrelevant, dass die Aufführungsorte sehr unterschiedlich sein werden: Von einer »Black Box« (Frankfurt LAB) über hybride Orte (Muziekgebouw Amsterdam) bis zu traditionellen Konzerthallen (Casa da Musica, Porto). Jedes Ensemble hat seine eigene Herangehensweise an spezielle Projekte wie dieses. Ein Ensemble schlug zum Beispiel vor, mit einem Bildenden Künstler zusammenzuarbeiten, um die visuellen und materiellen Elemente einer solchen Aufführung noch stärker zu betonen.
Neben dem Austausch mit den Ensembles steht vor allem die Kommunikation und Interaktion mit dem Publikum im Vordergrund. Wie wird das Publikum in Ihrem Werk in das Konzertgeschehen eingebunden?
V: ›The Gender Agenda‹ ist eigentlich eine Fernsehspielshow oder eine »Talkshow«. Wir werden Publikumsmitglieder einladen, auf der Bühne an Aktivitäten teilzunehmen, z.B. an Ratespielen und Interviews. Vielleicht machen wir auch Publikumsbefragungen im Saal. Es wird auch einen Sprechchor von Freiwilligen geben, der während der Aufführung eine besondere Rolle spielt, um das Publikum zum Mitmachen zu animieren.
B: Um dem Publikum eine nicht nur ornamentale Funktion zu geben, entschied ich mich, das Publikum selbst zum Herzstück der Aufführung zu machen. Sowohl der musikalische Inhalt wie auch die Strukturen liegen zeitweise in der Verantwortung des Publikums. Zusammen mit den Musikern wird das Publikum auch körperlich Teil eines größeren Kreises von Aufführenden, die unterschiedliche Phasen der Veranstaltung artikulieren werden, sodass die zwei Hauptgruppen (Musiker und Publikumsmitglieder) Teil des Universums des jeweils anderen werden, sowohl durch die Art, in der sie musikalisches Material »auslösen«, wie auch der, in der sie dieses Material artikulieren – sei es alleine, als einzelne Gruppe oder gemeinsam.
Wie erfolgt die »Vorbereitung« des Publikums?
V: Vor der Aufführung werden wir mit den Freiwilligen des Sprechchors Workshops machen. Dabei proben wir den Sprechchor-Teil der Musik und üben außerdem mit einem Teil der Freiwilligen Techniken ein, wie sie die Zuhörer während der Show für verschiedene Aktivitäten rekrutieren können. Zudem gibt es ein Warmup mit dem Moderator, ähnlich wie im Fernsehstudio.
B: Bei vorangehenden Workshops wird das Publikum die Gelegenheit haben, mit dem Ensemble unterschiedliche Formen des Musizierens zu erlernen und einzuüben: vom Gebrauch der Stimme (nicht unbedingt im rein vokalen Sinne) bis zum Spiel mit Alltagsgegenständen oder auch dem »Herumspielen« mit den Kopfstücken von Blockflöten. Neben dem Einüben und der Vorbereitung des Stücks werden wir mit dem Publikum die Erfahrung teilen, dass Musizieren eigentlich viel mehr ist als sich mit Tonhöhen und Dynamik auseinanderzusetzen – dass es ein performativer Akt ist, eine Lebensdimension, die gelegentlich von einer haptischen Erfahrung zu »inneren« Dimensionen fortschreitet, wobei es um Kraft, Verwurzelung und auch um Humor und Leichtigkeit geht.
Wie groß ist der Gestaltungsspielraum des Publikums? Wie
ist das Verhältnis von festgelegten und durch das Publikum beeinflussbaren Elementen?
V: Es wird sehr ähnlich wie bei einer TV-Talkshow sein: Der Rahmen des Stücks / der Spielshow ist von vornherein festgelegt, aber der Inhalt – worüber diskutiert wird, welche Meinungen sich dabei herauskristallisieren, etc. – kommt größtenteils aus dem Publikum. Das musikalische Material wird während der Aufführung relativ festgelegt sein, aber wir werden Live-Video-Feeds verwenden, die die Zuschauer so zeigen, wie sie am Abend der Vorstellung im Saal sitzen – wiederum ganz wie bei einer Fernsehsendung.
B: Ich arbeite an einem kompositorischen und formalen Modell, das alle Protagonisten, das Publikum und das Ensemble, einbeziehen. Während einer quasi-ständigen Aufführung werden die Ensemblemusiker ebenfalls Teil des Publikums, indem sie spielen, was vom Publikum verlangt wird, während sie sich punktuell hin zu instrumentalerem und/oder individuellerem Spiel »emanzipieren« und dabei das Publikum in einem Crossfade übertönen oder sich völlig davon loslösen. Auf diese Art werden sowohl das Klangmaterial, das seinen Ursprung häufig in der Aktivität des Publikums hat (oder im gemeinsamen Spiel von Publikum und Ensemble), und der formelle Apparat nahtlos verwoben mit Instrumentalspiel und Ensemblespiel.
Wie gehen Sie mit dem Faktor des Ungewissen – der Unberechenbarkeit des Publikums – in Ihrer
Komposition um?
V: Ich glaube, dass das unbekannte Element das Spannendste daran ist. Man weiß einfach nicht, wie ein bestimmter Zuschauer auf eine bestimmte Frage oder Aufgabe reagiert: mal wird die Reaktion nicht so spannend sein, mal sehr unterhaltsam oder überraschend. Das Spannende ist, dass das alles live passiert und alle Zuschauer das wissen. Dadurch wächst die Anspannung und die Erwartungshaltung im Publikum während des Stücks, und das ist faszinierend zu beobachten.
B: Die Unberechenbarkeit und die Standarddefinition einer musikalischen Partitur stehen in ziemlichem Widerspruch. Daher arbeite ich an einem Notationssystem, das all dies berücksichtigt. Manche Teile werden so notiert wie in einem Skript z.B. für ein Schauspiel.
Was wäre, wenn das Publikum die Interaktion verweigern würde?
V: Wir werden Strategien haben, um sicherzustellen, dass wir irgendeine Reaktion aus dem Publikum bekommen, und vieles davon hat damit zu tun, wie wir die Zuschauer ermuntern, auf die Bühne zu kommen, usw. Bei dieser Frage lasse ich mich gerade von Sarah Thom von der ausgezeichneten englisch-deutschen Theatergruppe Gobsquad beraten, die aus Experten für die Arbeit mit dem Publikum und interaktiven Stücke besteht.
B: Dann gäbe es kein Stück, da dieses Werk auf der Mitwirkung des Publikums beruht.
Ihr Stück wird in kurzer Folge in vier europäischen Städten aufgeführt. Vermuten Sie, dass das Publikum aufgrund unterschiedlicher kultureller Herkunft und Hörerfahrungen auch
unterschiedlich agiert und reagiert?
V: Ja, das erwarte ich bis zu einem gewissen Grad schon. Ich glaube, es kommt vor allem darauf an, was wir als finale Fragestellungen oder Aufgaben für das Publikum festlegen. Ein wenig kommt es auch auf den Moderator für die jeweilige Vorstellung an, da dessen Auftreten und Stil den Grundton der Aufführung beeinflussen wird. Wir hoffen also, dass unsere Moderatoren eine Menge Energie und Humor mit auf die Bühne bringen.
B: Absolut. Ich erwarte, dass das, was in einem Land witzig erscheint, in einem anderen als schrecklich ankommt, und umgekehrt. Aber das macht es ja interessant, nicht wahr?
Welche Erwartungen haben Sie an die Aufführungen? Unterscheiden sich Ihre Erwartungen von denen bei einem herkömmlichen Konzert?
V: Nein, ich glaube, meine Erwartungen sind nicht anders als bei meinen konventionelleren Werken. Ich versuche immer, meine Arbeiten ansprechend, packend, spannungsreich zu gestalten – egal, ob sie interaktiv angelegt sind oder nicht. Auf gewisse Art sollte jede Form von Musik für das Publikum »ansprechend« sein, denn wie sollte sie sonst kommunizieren? Mein Ziel für jedes Stück ist, dass das Publikum Teil des Dramas wird.
B: Ich wünsche mir jedenfalls, dass ich etwas Unerwartetes erlebe, aber größtenteils auf dem Gebiet der Energien und Interaktionen. Eine intensive Erfahrung, ja, aber auch absichtlich chaotisch, freudig (möglicherweise) und hoffentlich sehr lebendig.
Wie wichtig sind bei diesem Projekt die Neuen Medien?
V: Die sozialen Medien spielen in diesem Stück keine direkte Rolle, aber vielleicht nutzen wir einige historische soziale Medien als Quelle für den Inhalt des Stücks. Ich hoffe, dass die Leute sich von dem Stück ausreichend unterhalten und provoziert fühlen, dass sie währenddessen darüber tweeten möchten – oder natürlich hinterher!
B: So wichtig wie möglich, um zu teilen und publik zu machen, wie spielerisch und befreiend Musizieren heute ist.