Der Struwwelpeter
Im Gespräch mit der Fliegenden Volksbühne und Mitgliedern des Ensemble ModernEs ist eine der berühmtesten Ideen aus Frankfurt am Main, weltweit bekannt und hitzig diskutiert: die vom Arzt Heinrich Hoffmann Mitte des 19. Jahrhunderts für seinen Sohn geschriebene und gezeichnete Kurzgeschichtensammlung ›Struwwelpeter‹ – mit den heftigen und humorvollen Abenteuern von Zappel-Philipp, Paulinchen, Hans Guck-in-die-Luft, Daumenlutscher Konrad. Über die Erziehungsmethoden oder Absichten des Autors, die aus den Bildern und Versen sprechen, wird noch heute – nicht nur in Pädagogikseminaren – gestritten. Gleichwohl waren und sind die kurzweiligen Geschichten über Unwissen, Ungehorsam, Belehrung und Strafe sehr beliebt, was unzählige Adaptionen und Parodien belegen. Auch das kürzlich in die neu erbaute Frankfurter Altstadt umgezogene Struwwelpeter Museum zeugt von der anhaltenden Faszination der Sammlung. Zusammen mit der Fliegenden Volksbühne rund um Michael Quast wirft das Ensemble Modern einen frischen Blick auf den Stoff und seine Miniaturen und eröffnet mit der Uraufführung von ›Der Struwwelpeter‹ am 24. Januar 2020 die neue Spielstätte der Fliegenden Volksbühne im Großen Hirschgraben. Dafür schreiben die Ensemble Modern-Mitglieder Uwe Dierksen, Christian Hommel und Hermann Kretzschmar eigene, tiefsinnig-skurrile Stücke: für ihr Ensemble und für Michael Quast und Sabine Fischmann von der Fliegenden Volksbühne. Der Künstlerische Manager des Ensemble Modern Christian Fausch sprach mit ihnen über ihre Beziehung zum Struwwelpeter und die Umsetzung des Stoffs in einen musiktheatralischen Abend.
Fausch: Michael Quast, die Idee einer gemeinsamen Produktion gibt es schon lange. Wie ist sie entstanden?
Quast: Die Idee gibt es fast so lange wie die Fliegende Volksbühne, also über zehn Jahre. Schon damals habe ich mir gewünscht, mich mit anderen Frankfurter Künstlern zu vernetzen. Außerdem fand ich die Verbindung vom Ensemble Modern mit diesen populären Geschichten gut. Ich glaube, man erreicht damit ganz unterschiedliche Gruppen und kann sie mit Kunstformen konfrontieren, die sie von sich aus vielleicht gar nicht suchen würden.
Fausch: Was ist denn dein Bezug zum Struwwelpeter?
Quast: Ich kenne ihn von Kindesbeinen an und finde seine Vielschichtigkeit spannend. Mir gefällt das Plakative, aber auch die Tiefe an Interpretations- und Präsentationsmöglichkeiten, die der Stoff verheißt.
Fausch: Die neue Musik-Szene hat nicht unbedingt den Ruf, auf Populäres ausgerichtet zu sein. Wie reagiert man darauf als Gesellschafter des Ensemble Modern?
Dierksen: Genau das ist das reizvolle Reibungsmoment! Denn während wir auf der einen Seite mit dem Studium die Tradition eingeatmet haben, sind wir auf der anderen Seite durch das, was wir jeden Tag tun, vorne dran an der kompositorischen Bewegung. Ich bin ein großer Fan guter Unterhaltung. Ich benutze musikalische Mittel, die auf intuitive Weise sofort verstanden werden und eine Vertrauensebene schaffen, in deren Rezeptionsentwicklung ich dann auf Stilmittel zurückgreifen kann, die fremder sind und dem kontrapunktisch gegenüberstehen.
Hommel: Dazu muss man sagen, dass Uwe Dierksen und Hermann Kretzschmar über Jahrzehnte an dieser Quadratur des Kreises, der Verbindung von Unterhaltungsmusik und E-Musik, gearbeitet haben. Insofern ist es für das Ensemble nichts Neues, sondern etwas, das diese Kräfte richtig entfaltet.
Kretzschmar: Wobei das Ensemble Modern schon immer äußerst unterschiedliche Stile präsentiert hat, die oft von der orthodoxen Neuen Musik abwichen. Das Heutige, Neue besteht in der schnelleren und gemischteren Abfolge dieser Stile und ihrer Strukturregeln, speziell in einem Stück wie diesem.
Fausch: Mit der Fliegenden Volksbühne und dem Ensemble Modern kommen zwei Institutionen zusammen, die beide gern Grenzen ausloten und ausweiten. Die Fliegende Volksbühne hat längst eine ganz eigene Dimension von Volkstheater entwickelt. Und das Ensemble Modern ist eines der traditionsreichsten Ensembles für neue Musik, das nie dogmatische Scheuklappen angelegt hat.
Dierksen: Heute klingt das selbstverständlich. Aber in den 1980er und 1990er Jahren war genau das ein harter Kritikpunkt; dass wir eine Art Allerlei machen. In unserer Auffassung aber war das immer eine bewusste Öffnung hin zu allen kompositorischen Seiten.
Fausch: Der Struwwelpeter erlebt gerade eine Renaissance, obwohl das Buch nicht unbedingt einer der heutigen Zeit gemäßen Pädagogik entspricht.
Kretzschmar: Das tut ein Großteil der Märchen und Sagen auch nicht.
Quast: Gerade erst hat in der neuen Frankfurter Altstadt das Struwwelpeter-Museum eröffnet. Wenn man sich mit der Leiterin Beate Zekorn von Bebenburg unterhält, scheinen die Geschichten von Struwwelpeter bei heutigen Kindern ein echtes Erfolgsmodell zu sein. Sie werden begeistert nachgespielt; zum Beispiel »schneiden« sich die Kinder mit größtem Vergnügen gegenseitig Daumen ab. Hoffmann war ja in seiner Zeit ein Reformer. Und das kann man gut auf heute übertragen. Für mich hat der Struwwelpeter richtig Sprengkraft; er ist ein Revoluzzer.
Fausch: Revoluzzer?
Quast: Ja, er lehnt sich gegen Konventionen auf, stellt sich quer, will provozieren. Dieses Element findet sich in allen Geschichten wieder, etwa bei dem Hasen, der zur Waffe greift, oder beim Fliegenden Robert, der bei Gewitter rausgeht und wegfliegt. Es sind alles Katastrophengeschichten. Da gibt es Tote, da gibt es eine verkehrte Welt, in der das Tier den Jäger jagt und nicht umgekehrt. Es sind viele Aspekte, die etwas Widerständiges haben. Struwwelpeter ist Rock 'n' Roll. Ich glaube, dass Kinder diese Elemente heute erkennen können.
Fischmann: Es gibt bei allen Kindern Phasen, in denen sie Grenzen austesten oder diese überschreiten. Der Struwwelpeter thematisiert das, was man nicht zu denken oder auszusprechen wagt. Sorgen und Ängste, mit denen Kinder oder auch Eltern sich manchmal alleingelassen fühlen.
Hommel: Es werden genau die Fragen gestellt, die heute virulent sind. Hans Guck-in-die-Luft guckt bei Hoffmann zu den Schwalben und stolpert deshalb in den Main. Heute gucken alle aufs Smartphone. Die Magersucht des Suppenkaspers, die Gewalt des bösen Friedrich: Jede Geschichte ist extrem aktuell und übertragbar auf unsere Zeit.
Fausch: Wie funktioniert die Übertragung in ein Bühnenstück? Wird mit den existierenden Texten gearbeitet, werden sie modifiziert oder neu geschrieben?
Quast: All das. Die drei Komponisten bedienen sich aller Formen, an denen sie Spaß haben oder die sie für richtig halten. Zunächst einmal ist der Originaltext der Ausgangspunkt, aber dann wird mit dem Text gespielt.
Fischmann: Der Text wirkt wie eine Projektionsfläche für Erwachsene und Kinder.
Fausch: Wie habt ihr Komponisten die Geschichten untereinander aufgeteilt?
Hommel: Ich hatte mir Paulinchen mit dem Feuerzeug gewünscht. Ich habe da einen starken Bezug zu dem ›Mädchen mit den Schwefelhölzern‹ von Helmut Lachenmann gesehen, dessen Musik ich über alles liebe.
Kretzschmar: Besondere Vorlieben hatte ich nicht, aber auf jeden Fall den Wunsch, in mindestens einer Nummer den Text spielerisch zu verändern. Denn einige Sätze hat man ja heute noch im Ohr – da schadet es nicht, den Text zu variieren, durchaus in kritischer Manier. Außerdem stellten sich mir in meiner Kindheit diese Texte wie aus einer Fantasiewelt dar, besonders natürlich durch die altmodischen Illustrationen; so eine Textveränderung kann dem entsprechen.
Dierksen: Ich habe eher zum Schluss gewählt (lacht). So bin ich zu den beiden ersten Texten gekommen. Für mich war die erste Assoziation mit den Texten ein völliger Grusel, denn als Kind haben die Geschichten auf mich so gewirkt, als ob man im Leben nur alles falsch machen könne. Das hat mich dazu veranlasst, den Klappentext »Wenn die Kinder artig sind, kommt zu ihnen das Christkind ...« – diesen erhobenen Zeigefinger – wortwörtlich zu lesen und in eine Art Mittelalter-Gruselmusik zu bringen.
Fischmann: Das ging mir ähnlich, als ich das als Kind vorgelesen bekommen habe.
Quast: Ich habe es nicht so ernst genommen.
Kretzschmar: Ich auch nicht ...
Dierksen: Aber das setzt die Fähigkeit zur Abstraktion voraus. Und es gibt viele Kinder, die die nicht haben.
Fausch: Wie geht man als Komponist mit diesem Material um, das stark von den Zeichnungen geprägt ist? Wie schafft man es, eine Bildhaftigkeit einzubringen, ohne illustrativ zu werden. Oder darf es illustrativ sein?
Dierksen: Die Zeichnungen sind radikal. Sie lassen gar nichts zu, sind stark begrenzt. Es gibt nichts Verspieltes oder Verschlüsseltes ...
Fausch: Also keine Zwischentöne, keine Metaebene.
Dierksen: Das ist für mich eine Aufforderung, in der Musik ebenso starke Bilder zu evozieren, sodass am Ende eine Geschichte erzählt wird, die sich erst in den Köpfen zusammensetzt.
Hommel: Ich ziehe gerade die plakativen Aspekte isoliert heraus, was komische Situationen erzeugt. Ich glaube, sowohl Kinder wie Erwachsene werden daran Spaß haben. Mein Vorbild war ein wenig der Humor von Friedrich Karl Waechter, der in den 1970er Jahren im ›Anti-Struwwelpeter‹ dieses Spiel wunderbar gespielt hat. Gleichzeitig möchte ich eine Art Porträt Frankfurts von der Romantik bis heute einarbeiten.
Kretzschmar: Angst vor dem Illustrativen habe ich nicht; ich würde es anders nennen, etwa: Koinzidenz von Text und Musik, die oft Überraschendes und Heiteres auslösen kann, in unserem Fall sogar Koinzidenz von Text, Musik und Bühne.
Fausch: Normalerweise bestimmt ihr selbst, welche Musik ihr für eure Produktionen verwendet, Michael Quast und Sabine Fischmann...
Quast: Ja, in diesem Falle auch, verbunden mit einer Abenteuerreise.
Fischmann: Ich finde es toll, mit gleich drei Komponisten an einem Stück zusammenzuarbeiten!
Fausch: Während der Kompositionsarbeit standet ihr nicht im Austausch miteinander. Nun haben euch die Komponisten ihre Stücke vorgestellt. Wie arbeitet ihr jetzt mit diesen abgeschlossenen Kompositionen weiter?
Fischmann: Wir treffen uns mit jedem Komponisten und tauchen in die Stücke ein. Es wird Bereiche geben, wo wir frei sind und unsere Ideen einbringen können. Später werden wir mit dem Regisseur Matthias Faltz szenisch arbeiten, da können sich situativ auch ganz andere Entwicklungen ergeben, die wiederum die Musik beeinflussen. Es gibt aber auch konkrete Vorschläge und Wünsche der Komponisten, die wir zu erfüllen versuchen.
Dierksen: Wir haben uns zum Beispiel gestern getroffen und ich hatte an einer Stelle das Gefühl, dass mir der Text zu konkret ist. Gemeinsam sind wir darauf gekommen, das pantomimisch zu lösen und die Geschichte gar nicht eins zu eins zu erzählen.
Fischmann: Ja, die Musik hat so starke Bilder in mir und Matthias Faltz erzeugt, dass man wirklich das Gefühl hatte, der Text doppelt das.
Dierksen: Diese Zusammenarbeit hat sofort funktioniert. Ich denke sehr musikalisch und lasse Worte eher außen vor, da sie immer etwas Konkretes haben. Die wilde Jägerszene habe ich beispielsweise als Epilog gedacht. Wie würde die Musik klingen, wenn ich das Häschen wäre und die Geschichte vom Jäger erzählen würde?
Fischmann: Wir haben die Chance, etwas zu machen, das über die Zeichnungen hinausgeht.
Fausch: Wie kann man nun die einzelnen Sätze verbinden und einen dramaturgischen Bogen spannen? Welche Reihenfolge werden die Geschichten haben?
Hommel: Die Reihenfolge ist flexibel. Wir entwickeln erst im Laufe der Zeit die passende Dramaturgie des Ganzen. Das Schöne ist, dass es kein geschlossenes Kunstwerk ist, sondern man für verschiedene Ziel- oder Altersgruppen auch nur Ausschnitte zeigen könnte.
Fausch: Habt ihr beim Komponieren an die Persönlichkeiten von Michael Quast und Sabine Fischmann gedacht? Und wie ist es, für eure eigenen Ensemble-Kolleg*innen zu schreiben?
Dierksen: Mir hilft es, genau zu wissen, wer spielt. Auch beim Gesang ist wichtig, dass man die gleiche Auffassung hat; dass etwa »unverständlich« in der Partitur bedeutet, dass Worte auf eine semantische Art auch zum Instrument werden können, dass man sie dekonstruieren kann.
Kretzschmar: Ich würde manche Textverteilung gern noch offen und sich in den Proben entwickeln lassen. Auch bin ich gespannt auf rein musikalische Teile, die ohne Text laufen, und die Möglichkeiten, die sich aus diesen »Intermezzo-Situationen« ergeben.
Fausch: Kann man schon etwas zur Bühnengestaltung und Regie sagen?
Quast: Wir machen uns Gedanken zur Inszenierung, wenn die Stücke vorliegen. Auch die Arbeit des Bühnenbildners Carsten Wolff ist in der Entwicklung. Die Herausforderung ist: Was gibt es für optische Möglichkeiten auf einer Bühne, auf der ein Ensemble sitzt und die damit schon gut gefüllt ist? Vielleicht gibt es einen Mittelgang, eine Rampe oder eine Treppe, die uns Spielmöglichkeiten bietet. Was Carsten Wolff auf jeden Fall zur Verfügung hat, ist der Luftraum über der Bühne (lacht).
Fausch: Wir haben das Glück, dass der Struwwelpeter aufgrund von Bauverzögerungen unverhofft zur Eröffnungsproduktion eurer neuen Spielstätte geworden ist. Was wünscht und erhofft ihr euch vom neuen Haus? Welche Bedeutung hat es für eure Arbeit?
Quast: Eine sehr große! Es ist ein Quantensprung, wenn eine freie Truppe ein eigenes Haus eröffnen kann. Und ich finde es wunderbar, dass unsere gemeinsame Produktion die Eröffnungspremiere ist, weil sie wegweisend ist: der Bezug zu Frankfurt, die Zusammenarbeit verschiedener Frankfurter Künstler*innen, die mit einem alten Stoff etwas Zeitgenössisches machen. Das ist programmatisch ein toller Paukenschlag für ein neues Theater, das sich an alle Frankfurter*innen richten will.
Fausch: Herzlichen Dank euch allen für das Gespräch und weiterhin produktives Arbeiten am Struwwelpeter.