Wolfgang Rihm zum 70. Geburtstag
Ein Gespräch mit dem KomponistenEnsemble Modern: Die Zusammenarbeit von Ensemble Modern und dir reicht zurück bis ins Jahr 1981, in dem dein 3. Streichquartett ›Im Innersten‹ aufgeführt wurde. Es folgten etliche Aufführungen und Uraufführungen, darunter 1984 ›Un chien Andalou‹, 1987 ›Umsungen‹, die ›Abschiedsstücke‹ 1993 und natürlich die Werkgruppe ›Jagden und Formen‹. Gibt es Momente, die du besonders erinnerst, gerade auch in den Anfängen?
Wolfgang Rihm: Die Eindrücke durchdringen einander. Es gibt aber ein Ensemble-Modern-Grundgefühl: Es ist die Sicherheit, dass die Musik auf bestmögliche Weise dargestellt wird.
EM: Du feierst in diesem Jahr deinen 70. Geburtstag. Zu diesem Anlass wird das Ensemble Modern in der Elbphilharmonie Hamburg, der Alten Oper Frankfurt und Anfang 2023 auch in der Kölner Philharmonie die beiden Werke ›Abschiedsstücke. Gedichte von Wolf Wondratschek‹ und Concerto ›Séraphin‹‹ aufführen. Welchen besonderen Bezug hast du zu den beiden Werken?
WR: Im Rückblick wollen mir diese beiden Werke als sehr unterschiedlich erscheinen. Ich bin gespannt, ob dem wirklich so ist.
EM: Die ›Abschiedsstücke‹ wurden 1993 vom Ensemble Modern und Rosemary Hardy unter Leitung von George Benjamin in Badenweiler uraufgeführt. Wie kam es damals zur Zusammenarbeit mit Wolf Wondratschek?
WR: Wolf Wondratschek ist wie ich in Karlsruhe aufgewachsen, wir lernten einander aber erst viel später kennen. Er gab mir seine ›Mexikanischen Sonette‹, ich komponierte daraus einige als die ›Lowry-Lieder‹ – großorchestrale Sachen … Das war 1987/88. Fünf Jahre später dann die ›Abschiedsstücke‹. Ein ganz anderes Klangklima. Dazwischen gab es, 1990, die Uraufführung von ›Mein Tod‹ – auch da: symphonischer Ton. Wie gesagt: die ›Abschiedsstücke‹ sind ganz anders. Aber wie? Das könnte ich jetzt gar nicht sagen … Vielleicht konzertanter – also eigentlich näher am Idiom der Séraphin-Stücke? Trotzdem: ein anderes Klima auch hier. Die Ausdruckswelten stehen quer zueinander.
EM: Das ›Concerto ›Séraphin‹‹ gehört zu einer weitverzweigten Werkfamilie, unter anderem mit ›Séraphin‹ und der ››Séraphin‹-Symphonie‹. Was war die Ursprungsidee von ›Séraphin‹? Die Entwicklung der Stücke ist sicher nicht linear zu betrachten. Würdest du das ›Concerto ›Séraphin‹‹ trotzdem als Finalfassung bezeichnen?
WR: Ja. Ich glaube, das ist jetzt ausgereizt. Es gibt genug Musik(en) für einen ganzen »Séraphin-Tag«: Ausgehend von Baudelaires und Artauds Texten über dieses Schattentheater des italienischen Betreibers Serafino (daher der Name) lassen sich theatralische Entwürfe denken, eigentlich ohne Grenzen … sehr konkret bis sehr abstrakt … Die Grundidee war es wohl, diesem freien Spiel der Imagination so lange wie möglich zu folgen.
EM: Eine solche Werkgruppe ist auch ›Jagden und Formen‹, das zunächst als ›Gejagte Form‹ (1995/96), dann als ›Jagden und Formen‹ (2001) und ›Jagden und Formen (Zustand 2008)‹ vorliegt. Wie kann man sich die Arbeit an den verschiedenen Entwicklungsstadien vorstellen? Was war das jeweils impulsgebende Moment der nächsten Entwicklungsstufe? Du hast dich selbst einmal als »Landschaftsgärtner« dieser Werklandschaft bezeichnet ...
WR: Die Gärtner-Metapher habe ich sicher auf die Gesamtheit meiner unterschiedlichen Projekte und Pläne bezogen. Ich hege deren Wachstum. Wachsen müssen sie schon selber. Das heißt also, ich bin für die Energiezufuhr verantwortlich, für optimales Klima, für ideale Feuchtigkeit und so weiter … auch Licht und Wärme. Und gelegentlich muss der Boden umgegraben werden. Insektenschutzmittel … man sagt ja: »Pflanzenschutzmittel« – ich meide sie eher.
EM: Bei der Uraufführung 2008 wurde das Stück als musikalisch-choreografischer Abend konzipiert, in der Choreografie von Sasha Waltz mit ihrer Company. Wie würdest du die Wechselwirkung zwischen Musik und Tanz beschreiben? Braucht Musik eine gewisse Körperlichkeit, um choreografiert zu werden? Gibt es andere Stücke, die du gern »vertanzt« sehen würdest?
WR: Ich glaube, die choreografische Fantasie lässt sich an allen vorstellbaren musikalischen Bewegungsformen entzünden. Sogar an »unbewegten«. Jedenfalls stelle ich mir das so vor. Aber da können euch choreografisch begabte Menschen sicher noch tiefere Einsichten gewähren. Ich denke aber nicht grundsätzlich beim Komponieren an die »Vertanzbarkeit« des entstehenden Musikstückes. Wenn sich choreografische Fantasie an meiner Musik entzündet, empfinde ich das aber als eine Art Bestätigung, dass alles Musikalische seine nervlichen Wurzeln im menschlichen Bewegungsrepertoire hat.
EM: Im Herbst wird eine Einspielung von ›Jagden und Formen (Zustand 2008)‹ aus dem Jahr 2020 in Zusammenarbeit mit Deutschlandradio Kultur auf CD bei Ensemble Modern Medien erscheinen. Auch eine Einspielung hält verschiedene Zustände fest. Kann man behaupten, dass die Interpretinnen und Interpreten mit ihrer Erfahrung ein Werk mit jeder Aufführung, mit jeder Aufnahme fortschreiben?
WR: Unbedingt. Es zeigt sich das Potenzial, die inhärente Möglichkeitsgestalt einer Musik durch jede Interpretation deutlicher, offener, auch ungeschützter. Interpretationen helfen auch, den Behauptungsbelag von Kompositionen zu entfernen, sie immer nackter erkennbar zu machen. Auch der umgekehrte Weg ist denkbar: Interpretationen kleiden die Werke manchmal neu und falsch ein – etwa in Königsmäntel oder modische Lumpentrachten … Wir müssen wachsam bleiben.
EM: Ist ›Jagden und Formen‹ für dich nun abgeschlossen? Du sagtest einmal: »Doppelstriche am Schluss sind sowieso nur in die Länge gezogene Doppelpunkte.«
WR: Ich glaube, mit ›Jagden und Formen‹ ist etwas an sein Ende gekommen. Wenn da noch das Gefühl eines »Weiter« (vielleicht sogar von etwas Unabgegoltenem) entsteht, gehört exakt dieses Gefühl zur Endfigur dieser speziellen Prozessfolge. Es ist trotz allen Furors eben doch kein »Bum-bum-Schluss«.
EM: Die Förderung des Nachwuchses ist neben dem Komponieren ein zentraler Pfeiler deiner Tätigkeit. Viele deiner ehemaligen Schülerinnen und Schüler sind mittlerweile etablierte und renommierte Komponist*innen und unterrichten selbst wiederum. Was reizt dich immer wieder von Neuem, dich auf die nachfolgenden Generationen einzulassen?
WR: Vielleicht will ich herausfinden, was sie bewegt? Ich weiß es nicht. Ich empfinde mich nicht als geborenen Lehrer, muss mich immer wieder überwinden zum Hineindenken in diese vielen fremden Seelen, aber ich glaube: Dadurch können diese Mut schöpfen zum Eigensinn. Mehr jedenfalls, als wenn ich ein sogenanntes »durchdachtes System« im Angebot hätte. Sie können die Lehrergestalt als etwas Widersprüchliches erfahren, befangen in Zwängen, wie sie es an sich selbst erleben. Und dann können sie erleben, wie dieser mit Zwängen Kämpfende sich immer wieder schlagartig befreit und die modischen Anfechtungen von sich wirft. Bis die nächste Zwangslage ihre Verstrickung knüpft. Aber bitte fragen Sie die betreffenden Menschen. Als Lehrer gibt man jedem sowieso etwas anderes. Jedem Menschen, den die Frage umtreibt. Keine Antwort – aber eine neue Frage?
EM: Vor kurzem haben wir eine wunderbare neue Partnerschaft zwischen der Lucerne Festival Academy und dem Ensemble Modern begonnen. Dabei stellen wir eine Auswahl an Werken von jungen Komponist*innen, die an deinem Composer Seminar teilgenommen haben, in der Reihe ›Happy New Ears‹ vor und bieten damit ein weiteres Podium fürs Gehörtwerden. Gibst du ihnen Ratschläge im Umgang mit den Interpret*innen, Ensembles?
WR: Da gibt es keine allgemeinen Ratschläge, sondern nur individuelle Hinweise. Wahrscheinlich rate ich allen, ihre Ideen so unmissverständlich wie möglich zu artikulieren. Dabei sollte jeder ästhetische Ansatz in seiner Eigenart möglich sein. Also so wenig wie möglich: »Das macht man heute so!«
EM: Wie blickst du ästhetisch auf die aktuell junge Komponierendengeneration? Gibt es musikalische Tendenzen, Gemeinsamkeiten, Richtungen?
WR: Manchmal glaube ich einen tiefen Wunsch nach individueller Aussage zu vernehmen. Die wenigsten wollen eigentlich etwas typisch »Jetziges« machen – aber genau das ist das Schwerste: sich ohne Aufwand zu unterscheiden. Dafür gibt es kein Rezept. Aufruhr und Gelassenheit sind nach wie vor nicht leicht zu haben. Schon gar nicht gleichzeitig. Aber was sage ich …? Was wir tun, ist sowieso immer »JETZT«.