DAS IST (K)EINE MASCHINERIE
Im Gespräch mit Ryoji IkedaRyoji Ikeda ist weltweit als zeitgenössischer Künstler bekannt, dessen monumentale Installationen und wegweisende elektronische Kompositionen gefeiert werden. In einer bemerkenswerten Veränderung seiner künstlerischen Ausrichtung hat er kürzlich begonnen, sich auf das Gebiet rein akustischer Kompositionen zu begeben. Drei solche Werke hat das Ensemble Modern in Auftrag gegeben, deren Uraufführung am 8. Februar 2024 im Muziekgebouw aan’t IJ in Amsterdam stattfindet. Die Deutsche Erstaufführung folgt im Rahmen der cresc… Biennale für aktuelle Musik Frankfurt Rhein Main am 23. Februar 2024; am 15. März 2024 ist der Abend in Dresden im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau zu erleben. Vor der mit Spannung erwarteten Premiere von ›Saitenspiele‹ sprach Ikeda mit dem Tanz- und Theaterwissenschaftler David Rittershaus. Ihr Gespräch befasste sich mit Ikedas Anfängen als Performance-Künstler, seiner einzigartigen Perspektive auf die Rolle der Technologie und seinen neuesten Werken, in denen Bewegung von zentraler Bedeutung ist.
David Rittershaus: Ihre Arbeiten sind häufig an der Schnittstelle von Kunst und Technologie angesiedelt, und viele Ihrer Kompositionen und Installationen befassen sich mit Konzepten von Daten, Mathematik und der Beziehung zwischen elektronischen Klängen und Computergrafik. Könnten Sie ein wenig über Ihren Ansatz sprechen? Was interessiert Sie am meisten an der Arbeit mit diesen mathematischen Prinzipien, mit wissenschaftlichen Daten, und daran, diese in sogenannten »Monumentalminimalismus«, wie Kunstkritiker das früher nannten, zu verwandeln?
Ryoji Ikeda: Zunächst muss ich betonen, dass ich nie eine Ausbildung als Komponist oder Künstler erhalten habe. Ich habe mir alles selbst beigebracht. Im akademischen Kontext existiere ich nicht. Ich habe nie an einer Kunst- oder Musikakademie studiert. Ich habe bei null angefangen, als DJ und in der Untergrundkulturszene. Daher kann ich nicht wirklich eine Partitur lesen. Mir fehlt die Kenntnis der klassischen Musik, sogar des zeitgenössischen Tanzes, der bildenden Kunst, der zeitgenössischen Kunst. Ich bin eine Art Amateur geblieben, aber ich mache eine Menge Sachen. Mir ist es wichtig, mich als Komponist zu betrachten; als Komponist, der nie eine Partitur wird lesen können. Aber ich liebe das Komponieren. Zum Beispiel komponiere ich Klänge zu Musik. Ich komponiere Licht, Pixel oder Daten zu Kunstwerken. Und wenn ich eine Ausstellung kreiere, komponiere ich Raum und Zeit. Ich bin auch Musiker. Musik ist seit vielen, vielen Jahren, seit Platons Zeit, ein Bruder oder eine Schwester der Mathematik, und dem folge ich einfach. Klänge sind Klänge. Nichts als Luftschwingungen. Das ist ein physikalisches Phänomen und eine Art Eigenschaft der Physik. Das ist also Klang, aber was macht Musik zur Musik? Tatsächlich ist es die Struktur. Mathematische Struktur gibt dem Klang Leben. Das ist meine Ansicht. Daten sind auch ein bisschen wie Klänge, weil man sie nicht sehen kann. Man kann sie aufschreiben, man kann Daten in alphanumerische Listen oder Texte verwandeln. Sie existieren, aber man kann sie nicht anfassen. Das macht es für mich sehr spannend, Daten als Kompositionsmaterial zu verwenden. Das ist im Grunde mein Zugang.
DR: Also ist es primär ein Interesse am Komponieren, eine materialistische Auffassung vom Komponieren, das Ihre Arbeit motiviert?
RI: Daten oder Licht und Klänge bilden das Material für mein Komponieren, aber sie sind nicht wirklich Material oder Materie. Sie sind irgendwie immateriell. Man kann sie nicht anfassen. Und Technologie ist für mich nur ein Werkzeug. Natürlich sind Computer und KI spannend, aber ich benutze Computer oder Technologien genau wie alle anderen Leute. Tatsächlich könnten heute ohne ein iPhone oder iPad oder einen Laptop weder Studierende noch Banker noch Geschäftsleute arbeiten. Bei mir ist es genauso. Ich nutze all diese Technologien eben für die Kunst. Die Kunstwelt ist jedoch sehr konservativ. Kurator*innen haben große Angst, das anzunehmen. Aber Künstler*innen haben immer versucht, neue Technologien, neue Methoden oder Werkzeuge zu nutzen. Ich mache gar nichts Besonderes.
DR: Sie erwähnten, dass Daten nicht wirklich greifbar seien. Mir jedoch haben Ihre Installationen, die solche Daten nutzen, immer eine körperliche Erfahrung von Grafiken und Klängen beschert. Gehört es zu Ihrer Methode, etwas Greifbares in diesem Sinne zurückzuholen, oder abstrakte Mathematik, abstrakte Prinzipien und Daten in etwas zu verwandeln, das eine körperliche Erfahrung mit sich bringt?
RI: Ich bin Künstler. Daher ist es meine Aufgabe, eine Erfahrung zu schaffen. Manchmal durch zweidimensionale Werke an der Wand, manchmal durch Musik, manchmal durch ein Video oder Installationen oder was auch immer. Mathematische Vorstellungen sind sehr abstrakt. Sie existieren im Kopf und sind nicht greifbar. Sie sind eigentlich platonisch; das ist ein sehr idealistisches Ding. Aber Physik, physische Materie ist für unseren Körper, unser Gehirn real. Ich kombiniere gern mathematische, hochabstrakte Vorstellungen von einer Struktur mit körperlichen Erfahrungen. Wenn ich Musik mache, brauche ich einen Zuhörer, eine Zuhörerin. Musik ist auch eine Luftschwingung. Sie existiert in dieser Welt als Phänomen. Daher ist die körperliche Erfahrung sehr wichtig. Ohne sie könnte ich ein Buch schreiben, oder, ich weiß nicht, ein Konzept schaffen, Dinge mit Worten erklären. Das ist aber nicht das, was mich interessiert. Ich muss Musik machen, Installationen, Bühnenkunst schaffen, all diese Dinge, die mit Erfahrung zu tun haben.
DR: Sie sind für Ihre elektronischen Kompositionen berühmt, und bisher haben Sie erst wenige akustische Kompositionen geschaffen. Die Kompositionen für das Ensemble Modern jedoch sind ausschließlich für akustische Instrumente. Bedeutet das einen Richtungswechsel in Ihrem Werk?
RI: Es ist nicht wirklich ein Wechsel, sondern ein zusätzliches Element. Zusätzlich zu all meinen anderen Aktivitäten versuche ich, die Zahl der Dinge, mit denen ich mich beschäftige, zu erweitern. Natürlich nutze ich eine Menge Technologien und diese digitalen Elemente. Ich komme ursprünglich aus einer Art Performance-Szene. Ich war Mitglied eines japanischen Kollektivs mit dem Namen ›Dumb Type‹. Die fingen Mitte der 1980er an, ich stieß Mitte der 90er dazu, und dann haben wir jahrzehntelang weltweite Tourneen gemacht. Wir waren sieben bis zehn Performer*innen auf der Bühne, plus Lichtdesigner*innen, Ausstatter*innen, Komponist*innen, Computerprogrammierer*innen, Architekt*innen, Designer*innen, Grafikdesigner*innen. Wir hatten ungefähr 15 bis 30 Mitglieder. Das war komplett horizontal, keine Führungsrollen, total demokratisch – was eigentlich richtig ätzend ist. Aber dort habe ich alles gelernt. Ich fing mit der Musik an, aber dann lernte ich Lichtdesign, Video und sogar Choreografie. Natürlich bin ich kein Choreograf, aber wir haben uns über all diese Dinge ausgetauscht. Nachdem ich diese Gruppe verlassen hatte, entschied ich mich für eine klare Richtung, und da ging es nur um dieses elektronische oder digitale Ding. Das habe ich 30 Jahre lang gemacht. Nachdem ich dann Hunderte von Computern benutzt hatte, kehrte ich zu eher menschlichen Aspekten zurück. Heute habe ich eine andere Perspektive. Damals hasste ich die Zusammenarbeit mit Tänzer*innen; heute schätze ich die Arbeit mit Menschen. Denn Menschen können wir nicht kontrollieren. Stattdessen müssen wir uns mit ihnen befassen, ihnen trauen. Sogar auf einer sehr konzeptuellen Ebene, hinsichtlich der Informationstheorie, geben mir Tänzer*innen, Menschen, immer unheimlich viel Information. In einer einzigen Geste, die ich auf dem Computer nicht simulieren kann. Oder vielmehr, ich kann es, aber es ist langweilig. Künstliche Intelligenz zu nutzen ist langweilig. Aber mit nur einem Menschen vor mir, einfach im Gespräch, nicht am Bildschirm, sondern von Angesicht zu Angesicht, wird mir klar, dass das eine so reichhaltige Erfahrung ist, nachdem ich so viele Technologien genutzt habe. Daher habe ich wieder angefangen, mit Menschen zu arbeiten.
DR: Sie werden drei neue Kompositionen präsentieren. Können Sie uns etwas mehr über diese Werke erzählen und auch die Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern beschreiben?
RI: Ich kann Ihnen nichts zum Konzept sagen. Es gibt kein Konzept. Da gibt es nichts zu erklären. Wie ich schon sagte, war mein Werdegang teilweise in der Darstellenden Kunst, und meine früheren akustischen Kompositionen kann man vor diesem Hintergrund verstehen. In meinen Arbeiten konzentriere ich mich darauf, wie die Musiker*innen sich verhalten. Die Gesten. Nicht nur, wie sie ihre Instrumente spielen, sondern auch wie sie den Klang hervorbringen. Ich beobachte, wie sie aussehen und wie sie sich bewegen. Ihre Bewegungen sind so wichtig für mich. Eine meiner früheren Arbeiten, zum Beispiel, ein Duett, benutzt keine Instrumente, nur die klatschenden Hände und Schritte von zwei Menschen, und einen sehr präzisen Kontrapunkt. Was man hört und was man sieht, hat nichts miteinander zu tun, weil es so schnell und so detailliert ist. Es gibt Leute, die sagen, es sei ein bisschen wie ein Thierry De Mey oder ein Steve Reich. Aber ich glaube, es ist ganz anders. Es ist zum Beispiel weit entfernt von jeglicher akademischen zeitgenössischen Musik. Es gibt keine Geschichte. Keine Stimmung. Es ist wie eine Maschine. Das ist wirklich glasklar und wunderschön, ohne Instrumente zu nutzen, nur den Körper. Aber am Ende ist es nicht wirklich eine Maschinerie. Es geht um subtile Nuancen, und die Darsteller*innen haben innerhalb einer sehr strengen Komposition gewisse Freiheiten. Das gefällt mir. Eine der Kompositionen für das Ensemble Modern wird ein bisschen in dieser Art sein, teilweise mit choreografischen, visuellen Elementen. Insgesamt werden es drei Stücke sein. Eines davon besteht aus drei Duos. Zwei davon mit zwei Violinen, eines mit zwei Bratschen. Für dieses Stück nutzen wir einen langen, schmalen Tisch mit einem Bogen Papier darauf, das ist die Partitur. Die Instrumentalist*innen werden sich am Tisch entlang bewegen müssen, um die Partitur zu lesen, jeweils eine*r auf jeder Seite des Tisches. Eine*r kann die Partitur von links nach rechts spielen, aber der oder die andere muss sie in umgekehrter Richtung spielen, weil es nur fünf Notenlinien gibt. Sie teilen sich eine einzige Notation, und an einem bestimmten Punkt überschneiden sie sich.
DR: Die Partitur und die Art, in der die Musiker*innen sie lesen müssen, provoziert auch eine gewisse Choreografie und bestimmt ihre Bewegungen.
RI: Ja, sie müssen von zwei Startpositionen aus losgehen. Zu einem gewissen Zeitpunkt überschneiden und überkreuzen sich ihre Bewegungen. Das ist eine Art Höhepunkt. Es ist eine sehr einfache Idee, aber sehr schwer umzusetzen. Ich habe zehn Jahre gebraucht, um das zu komponieren, musikalisch und als Choreografie. Es ist nicht die Art Stück, wo man grundlos von A nach B laufen muss. Es ist vielmehr Teil der Komposition, ein essenzieller Parameter. Klanglich ist es sehr harmonisch, was sehr wichtig ist, weil ich möchte, dass man es wirklich fühlen kann. Ich versuche immer noch, diese Struktur auszubauen, sie für sechs Leute an drei Tischen zu komponieren, aber vielleicht werde ich dabei versagen. Die anderen zwei Kompositionen sind für neun Streicher. In der klassischen Musik nennt man das ein Nonett. Ich habe mich bewusst für neun Leute entschieden, weil ich mit der Symmetrie arbeiten wollte. In der Mitte ist der Kontrabass, mit je einem Quartett zu beiden Seiten – Celli, dann die Bratschen und dann zwei Geigen. Meist stellen sich Ensembles in einem Halbkreis auf, weil sie einander sehen möchten. Ich mache es anders und stelle sie in einer geraden Linie auf, weil es mir darum geht, dem Publikum die Gesten zu zeigen. Die Komposition selbst ist mikroskopisch und wird sehr komplex, aber sie bleibt harmonisch. Ich möchte nichts schaffen, was zu seltsam und fremd ist. Das ist nicht wie »typische« zeitgenössische Musik.
DR: In Ihren Arbeiten spielt der Einsatz von Licht und Video oft eine entscheidende Rolle bei der Schaffung immersiver Räume. Nutzen Sie das auch bei diesen neuen Stücken? Wie werden diese inszeniert?
RI: Die Bühne ist einfach. Ich habe mich beschränkt, indem ich für dieses Projekt keine hypermoderne Technologie einsetze. Es gibt eine fixe Beleuchtung. Keine Wechsel, keine schicken Lichtspiele. Es ist einfach sehr konventionelle klassische Musik [lächelt]. Vor allem nutze ich keine Mikrofone. Heute ist es so selten, keine Mikrofone zu benutzen, und ich frage mich, warum. Die Uraufführung findet in Amsterdam statt, wo vielleicht 700 Leute im Publikum sein werden. Ich habe es aber am selben Ort mit einem sehr subtilen Klang ausprobiert, und es hat perfekt funktioniert. Das basiert alles auf Physik. Ich habe die Frequenzen analysiert, und man kann sie dort sehr schön streuen. Man bringt einfach diese wertvollen Geigen mit, und dann spielt man. Es ist also ein sehr umweltbewusstes Stück [lacht]. Meine Motivation besteht darin, Konventionen zu hinterfragen. Es geht um diese Herausforderung: etwas Ungewöhnliches zu sehen, das zugleich auch ein bisschen schön sein soll. Es geht nicht nur um ein ungewöhnliches Konzept, das haben wir alle so satt. Es geht um gute Musik und auch um die Spieler*innen. Die müssen es genießen.
DR: Sie haben schon mehrfach den menschlichen Aspekt genannt. Ich frage mich, welche nichtmenschlichen oder mehr-als-menschlichen Qualitäten Sie vielleicht von Ihren früheren Werken mitbringen, und woraus Ihr Interesse resultiert, Technologie für solche Werke und Gemeinschaftsprojekte ein zusetzen.
RI: Menschen haben eine Tendenz, Dinge sehr rigide zu gestalten. Manche Menschen lieben Routinen. Man muss nicht mehr bewusst über etwas nachdenken, hat aber trotzdem eine gewisse Freiheit. Wenn man Emotionen, Gefühle und die Komposition vermischt, wird es für mich echt verworren. Ich versuche, unnötige Gefühle zu eliminieren. Eins nach dem anderen. Ich versuche das klarzustellen, damit die Musiker*innen sich konzentrieren und üben können, bis es wirklich in ihren Körper übergeht. Wenn ich diese Art Aufführung sehe, zum Beispiel von einem Beethoven-Streichquartett, ist das einfach erstaunlich, weil sie diese Beethoven-Partitur tausendmal spielen. Sie liegt ihnen im Blut, sie müssen nicht mehr viel proben. Gleichzeitig bleibt nur ein kleiner Raum für Freiheit in der Interpretation. Ich hoffe, bei ›Saitenspiele‹ auch so etwas zu erleben. Vielleicht noch nicht bei der Uraufführung, aber eventuell während oder am Ende der Tournee. Und ich hoffe, das Ensemble wird es genießen können.