Auf Augenhöhe
Ein Gespräch über die Meisterkurse der Internationalen Ensemble Modern AkademieMit der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA) hat das Ensemble Modern seit 2003 eine eigene Ausbildungsstätte mit vielfältigen Ausbildungsprogrammen im Feld der aktuellen Musik geschaffen und bietet internationale Meisterkurse, Seminare für Komponist*innen und Dirigent*innen, Education-Projekte und einen Masterstudiengang im Bereich Zeitgenössische Musik in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt (HfMDK) an. In dieser und den nächsten Magazin-Ausgaben beleuchten wir in Interviews mit Mitgliedern des Ensemble Modern die verschiedenen IEMA-Formate und die gegenwärtigen Herausforderungen. Für die erste Folge hat sich David Rittershaus mit dem Geiger Jagdish Mistry und dem Fagottisten Johannes Schwarz getroffen, um über die internationalen Meisterkurse der IEMA zu sprechen.
David Rittershaus: Die IEMA bietet verschiedene Ausbildungsformate an. Welche Bedeutung und Funktion hat die IEMA für das Ensemble Modern? Welche Rolle spielen die Meisterkurse, über die wir heute im Besonderen sprechen wollen?
Johannes Schwarz: Im Rahmen der IEMA bieten wir ganz unterschiedliche Meisterkurse an, beispielsweise epoche_f, internationale Kurse wie in der Vergangenheit in Griechenland oder beim Festival Klangspuren Schwaz oder die Hans Zender Akademie – alle für junge Musiker*innen. Die Young Ensemble Academy für schon bestehende Ensembles. Das sind alles Ausbildungsprojekte, mit denen wir eine direkte Kommunikation in die Gesellschaft hinein zu den jungen Leuten etablieren möchten.
Jagdish Mistry: Die Kurse richten sich an unterschiedliche Altersgruppen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen, auf die wir versuchen einzugehen. Auch beim Repertoire müssen wir immer wieder neu denken, was die aktuelle Musik von heute ist.
JS: Für uns ist ja auch wichtig, was zu uns zurückkommt, wenn wir Kurse geben. Durch das Unterrichten kreist man als Ensemble nicht nur um seinen eigenen Orbit. Über die IEMA haben wir einen Interessenaustausch mit der jungen Generation: Was passiert in der Gesellschaft, welche Themen sind relevant? Das sind zum Beispiel Finanzen, Klimawandel, Krieg, Unsicherheiten, das Internet. Wir bekommen dadurch mit, wie die junge Generation tickt, wie sie Kunst und Kultur sieht. Insofern ist jeder Kurs spannend.
DR: Beim Begriff des Meisterkurses denkt man leicht an große Lehrmeister, zu denen die Lernenden mit Ehrfurcht heraufschauen …
JS: Das Bild stimmt bei uns nicht. Wenn wir in einem Kurs sind, dann sind wir auf Augenhöhe, auf einer Ebene in der Kommunikation mit den Teilnehmenden, und so unterrichten wir auch. Wir schauen, was sie anbieten, und dann holen wir sie da ab, wo sie sind.
JM: Bei Formaten wie epoche_f ist das ein bisschen anders. Die Teilnehmenden sind zwischen 17 und 20 Jahre alt, und wir müssen sie erst einmal an die neue Musik heranführen, weil sie wenig Erfahrung damit haben. Wir müssen versuchen, ihnen nicht nur die Musik selbst, sondern auch die Ideen, die hinter dieser Musik stehen, näherzubringen und daraus etwas zu entwickeln. Vor ein paar Jahren zum Beispiel haben wir einen Rhythmus von Steve Reich genommen – den sehr bekannten aus ›Clapping Music‹ – und haben mit diesem ein ganzes instrumentales Stück gebaut; mal war der Rhythmus verlangsamt, mal verdoppelt usw.
DR: Ihr seid beide sehr erfahrene Musiker, aber gab es für euch in der Vermittlungsarbeit einen Lernprozess? Was waren für euch die Herausforderungen, und was war das Spannende an dieser Arbeit?
JS: Das Spannende ist, dass jeder Kurs für uns neu ist und man merkt, dass zum Unterrichten mehr gehört, als ein vielseitiger, guter Musiker zu sein. Man muss vorbereitet in die Kurse gehen und wirklich mit viel Zeit und seiner ganzen Seele dabei sein, um die Teilnehmenden zu begeistern und mitzunehmen. Aber wir denken dadurch auch über uns selbst wieder genauer nach.
JM: Häufig müssen wir Stücke unterrichten, die wir selbst nie gespielt haben. Trotzdem müssen wir uns mit ihnen befassen und herausfinden, worum es genau geht, um das dann zu vermitteln. Das heißt, wir beschäftigen uns oft mit dem Unbekannten. Aber natürlich bringen wir auch unsere Erfahrung mit ein und können unsere Denkweise weitergeben.
DR: Es gab in der Geschichte der IEMA schon einige Meisterkursformate, die zum Teil heute nicht mehr stattfinden, dafür sind neue Formate entstanden, wie zuletzt die Young Ensemble Academy, die sich nicht an einzelne Instrumentalist*innen, sondern an Ensembles und Gruppen richtet. Gibt es bei all der Auseinandersetzung mit dem Neuen und Unbekannten auch Konstanten?
JM: Ich denke, was das Repertoire angeht, gibt es schon Konstanten. Stücke, die unserer Meinung nach beigebracht werden müssen. Zum Beispiel aus der Zweiten Wiener Schule. Ich würde behaupten, wenn man diese Sprache nicht kennt, kann man die Musik danach weniger verstehen, zum Beispiel Elliott Carter, Harrison Birtwistle oder auch George Benjamin, obwohl sie sehr anders komponieren. Ihre Freiheit in der musikalischen Sprache kommt aber aus dem, was die Zweite Wiener Schule geschaffen hat. Deswegen sollte man bestimmte Leuchttürme genau anschauen und studieren.
JS: Damit sind wir jetzt auch bei der Young Ensemble Academy. Da kommen junge Ensembles zu uns, die schon ein paar Jahre im Geschäft sind und die versuchen, als Gruppe eine Sprache zu finden. Sie bringen schon ein eigenes Denken mit, was sie in die neue Musik transportieren wollen. Sie mischen teilweise auch verschiedene Genres, und zwar sehr virtuos. Da sind wir oft perplex, was da auf uns zukommt. Wir müssen uns damit beschäftigen, wie die jungen Leute, die 20 bis 30 Jahre jünger sind als wir, über ihre Musik nachdenken, wie sie musikalische Gestaltungsformen mit jungen Komponist*innen aus ihrer Generation neu erfinden. Wir müssen ein komplett neues Gefühl dafür entwickeln, was gut ist, was schlecht ist, und das ist richtig schwierig.
DR: Warum rückt ihr mit der Young Ensemble Academy diese Zielgruppe stärker in den Fokus? Hat sie eine größere Bedeutung erlangt?
JS: Im Moment legen wir darauf einen Fokus, aber wir werden mit Sicherheit auch wieder andere Kurse anbieten. Gerade ist auch zu sehen, wie sich an den Hochschulen und in den Masterstudiengängen für zeitgenössische Musik viele Gruppierungen herauskristallisieren, die etwas bewegen wollen. An dem Punkt möchten wir ansetzen und ihnen zeigen, wie wir 40, 45 Jahre lang gelernt haben, uns in diesem Feld zu bewegen.
DR: Hat sich denn der Kulturbereich gewandelt in der letzten Zeit, sodass Absolvent*innen eher gemeinsam und weniger als Einzelmusiker*innen auf den Arbeitsmarkt treten wollen?
JS: Ja, es gibt an den Hochschulen im Moment, ich will nicht sagen, eine Angst, aber schon einen distanzierten Blick, ob man das überhaupt schafft, selbstständige*r Musiker*in zu sein. Ich glaube, vor 20, 25, 30 Jahren war man da viel offener und positiver gestimmt. Nun ist man vorsichtiger. Ich glaube, dadurch entstehen mehr kleinere Ensembles, die sehr beweglich sind, die verschiedene Ideen zusammentragen und versuchen, sich zu stützen oder auch gemeinsam größere Sachen umzusetzen.
JM: Was meiner Meinung nach schwieriger geworden ist für uns, ist auch, dass Musik mittlerweile viel mehr nicht musikalische Themen transportieren soll. Das war vor gut 40 Jahren, als wir angefangen haben, nicht der Fall. Themen wie Gender, Klima, Rassismus, Musik aus anderen Ländern, dem globalen Süden – all das ist neu zur Musik hinzugekommen. Der Austausch bringt uns aber viel, weil wir sehen, wie die Menschen heute auf die veränderte Lage reagieren.
DR: Das heißt, es gibt einerseits veränderte Anforderungen an die Ausbildung bezüglich des Berufsfeldes, die auch mit Unsicherheiten zu tun haben, und andererseits einen anderen Umgang mit nicht unmittelbar musikalischen Themen? Gibt es da auch Zusammenhänge?
JS: Die Unsicherheiten sind auf jeden Fall größer geworden. Die finanziellen Mittel sind reduzierter und man muss sich viel mehr recken nach den Mitteln, um zu überleben und etwas gestalten zu können. Wir sind als Ensemble immer mehr gefragt, aufzuzeigen, wie man sich mit zeitgenössischer Musik in organisatorischer Hinsicht aufstellen kann. Wie geht man mit Komponist*innen um? Wie geht man mit anderen Kunstformen und Stilen um? Wie geht man mit Künstler*innen um, mit denen man gemeinsame Projekte verfolgen möchte?
DR: Werden diese Themen jetzt für Instrumentalist*innen wichtiger?
JM: Besonders größere Ensembles der jungen Generation haben heute fast immer ein oder zwei, vielleicht sogar drei Komponist*innen im Ensemble, die oft bestimmen, in welche Richtung es geht, und die sich mit diesen Themen beschäftigen.
JS: Das ist ein interessanter Punkt. Wenn ich sehe, wie effizient junge Ensembles, die »feste« Komponist*innen in ihren Reihen haben, mit ihrem Werkstoff Musik und mit ihrem Beruf umgehen; sie geben dann ganz schnell dieses kompositorische Denken gänzlich an die Komponist*innen ab. Ich bin aber stolz darauf, dass ein Ensemble Modern selbst denken und entscheiden muss. Als Musiker*innen stehen wir auf der Bühne und müssen mit dem Publikum zusammen ausmachen: Ist das jetzt gut oder schlecht, was ich da spiele? Und bin ich dann für das Publikum die letzte Instanz? Für mich selbst würde ich das bejahen. Wenn es um den Charakter eines Ensembles geht, würde ich das nie den Komponist*innen überlassen.
JM: Das Problem ist, dass sich diese gesellschaftsrelevanten Themen nicht einfach auf Musik übertragen lassen. Wie man das ausbalanciert, das ist zurzeit eine große Aufgabe. Aber es ist wahrscheinlich etwas zu früh, um zu sagen, in welche Richtung es sich entwickelt.
DR: Ich würde gerne noch mal auf die Young Ensemble Academy zurückkommen. Abgesehen von den angesprochenen Themen und Fragen, die da hineinspielen, was passiert dort konkret?
JS: Wir arbeiten auf mehreren Ebenen. Wir setzen verschiedene Ensembles in verschiedenen Größen in Kommunikation miteinander. Wir organisieren ein Feld für Begegnungen!
Dieses Jahr sind es fünf Ensembles, die für neun Tage alle hier zusammenkommen in der Fabrik, im Haus der Deutschen Ensemble Akademie, in dem das Ensemble Modern und die IEMA angesiedelt sind. Jeden Tag gibt es Proben, Vorspiele, Workshops usw. Es wird gemeinsam gegessen und es gibt einen Aufenthaltsbereich, wo sie sich untereinander und mit uns treffen können, wenn sie mal eine Pause machen. Sie haben ihren eigenen Probenraum, in dem wir sie auch unterrichten und ihre Stücke anhören. Interessant ist, dass wir 80 Prozent der Stücke nicht kennen.
JM: Oftmals wurden die Stücke für diese Gruppe komponiert.
JS: Da sind wir schon ziemlich erstaunt, was diese Generation teilweise unter Musik versteht. Das Zusammentreffen hilft ihnen aber auch, um zu diskutieren, ob das ausreicht. Was ist das genau, was sie da machen? Wir versuchen das nicht zu bewerten, im Sinne eines Meisterkurses, sondern wir diskutieren mit ihnen: Was ist Musik, was macht sie heute aus? Wie spricht man das Publikum an?
JM: Jedes Ensemble muss heute einen eigenen Weg finden. Das wird nicht der Weg des Ensemble Modern sein, das vor 44 Jahren ein Pionier war in Deutschland. Mittlerweile gibt es viele andere Ensembles, die ihre Nische schon gefunden haben. Aber wie man mit dieser Nische weiterkommt, ist eine wichtige Frage für sie. Als Erstes erzählen sie uns daher von ihrer bisherigen Laufbahn, und dann diskutieren wir zusammen, wie es weitergehen könnte.
DR: Ein gegenseitiges Weiterbringen?
JS: Ja, inhaltlich, geschäftlich, wie diskutiert man in einem Ensemble? Das muss auch organisiert werden. Dafür haben wir Workshops mit unserem Künstlerischen Manager und Geschäftsführer Christian Fausch. Wir laden aber auch Gäste ein. Louwrens Langevoort, Intendant der Kölner Philharmonie, hat im letzten Kurs jedes Ensemble aus Veranstaltersicht beraten.
DR: Gibt es aus der ersten Young Ensemble Academy von 2022 etwas, das ihr für die zweite Ausgabe mitnehmt, das ihr anders angehen wollt?
JS: Ich finde das Format so spannend, weil es davon abhängt, welche Gruppierungen sich bewerben. Ich bin gespannt, wie sich das klassische Klaviertrio mit den eingefleischten Kompositionen gegenüber einem anderen Trio, das »wild« mit Performance experimentiert, behauptet. Das gehört dazu und hilft, Dinge aufzubrechen.
JM: Wir wollen vor allem anbieten, offen zu sein. Wir haben außerdem zwei Konzerte dieses Jahr, eines in Offenbach und das große Abschlusskonzert in der Alten Seilerei in Frankfurt.
JS: Die Alte Seilerei ist ein idealer Ort für das Konzert. Man ist den ganzen Tag dort zusammen, probt, alle Ensembles zusammen, in einem Riesenraum, in dem man sich niederlassen kann. Und sich wohlfühlt – halb draußen aus Frankfurt, aber doch drinnen.
JM: Es gibt auch eine Uraufführung von der amerikanischen Komponistin Katherine Balch für eine freie Instrumentation, das extra so konzipiert ist, dass alle teilnehmenden Ensembles und das ganze Ensemble Modern mitwirken können. Ein großes Stück. Ein großes gemeinsames Musizieren.