Vermittlungsarbeit durch »Selbermachen«

Stefan Fricke im Gespräch mit Uwe Dierksen und Dietmar Wiesner zu den Education-Projekten der Internationalen Ensemble Modern Akademie

Das Spektrum an Programmen, die die Internationale Ensemble Modern Akademie (IEMA) anbietet, reicht von internationalen Meisterkursen, Seminaren für Komponist*innen und Dirigent- *innen über Education-Projekte bis hin zu einem Masterstudiengang im Bereich zeitgenössische Musik in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt (HfMDK). Während in der letzten Ausgabe des Magazins die Meisterkurse im Mittelpunkt standen, widmen wir uns dieses Mal den Education-Projekten. Stefan Fricke sprach dazu mit Posaunist Uwe Dierksen und Flötist Dietmar Wiesner.

Stefan Fricke: Seit Mitte der 1980er Jahre realisiert das Ensemble Modern spezielle Education-Projekte. Wie kam es dazu?

Dietmar Wiesner: Es gab schon ganz früh, ich glaube 1984, Projekte in Schulen, aber 1988 machten wir zum ersten Mal ein Vermittlungsprojekt, zusammen mit Leuten von der London Sinfonietta, die für uns wie Mentoren waren, denn diese Education Ideen kommen ja aus England. Die London Sinfonietta hatte schon viel Erfahrung auf diesem Gebiet gesammelt und gab diese an uns weiter. Wir haben einige Projekte an Westberliner Schulen umgesetzt – die Berliner Festspiele waren ein Kooperationspartner – und in Mönchengladbach beim Festival Ensemblia. Das war der Anfang, und dann haben wir sehr viele solcher Vermittlungsprojekte gemacht, auch in Frankfurt und anderswo in Hessen.

SF: Und Education wurde 2003, als das Ensemble Modern die IEMA, die Internationale Ensemble Modern Akademie, gegründet hat, ja auch ein fester, zu vermittelnder Bestandteil.

DW: Ja, Education gehört zum Bildungsauftrag der IEMA. Für uns stand von Anfang an fest, dass wir uns in der Akademie nicht nur im Exzellenz-Bereich mit jungen Menschen austauschen wollen, die gerade frisch von den Musikhochschulen kommen – so ist es ja im Masterstudiengang beziehungsweise im IEMA Ensemble –, sondern dass wir uns so breit wie möglich aufstellen wollen, wozu wir auch die aktive Vermittlung von »Musik erfahren« zählen. Und das nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern auch für Erwachsene. Wir haben hierfür zwei Tutoren aus Großbritannien engagiert, Fraser Trainer und Paul Griffiths, die schon sehr viel Erfahrung auf diesem Gebiet hatten. Wir haben etliche ihrer Ideen übernommen und weiterentwickelt. Dabei hat Uwe Dierksen eine sehr zentrale Rolle gespielt, zudem eine Zeit lang unser Schlagzeuger Rainer Römer und auch ich. Wir drei waren so eine Art Führungsteam für diese Vermittlungsprojekte, haben uns immer über Ideen und Vorhaben ausgetauscht und sind zusammen mit unseren Ensemble Modern-Kolleginnen und Kollegen in die Schulen gegangen, um entsprechende Projekte durchzuführen.

Uwe Dierksen: Die Begegnungen mit den beiden Tutoren waren sensationell. Sie haben uns viele Tools gezeigt, wie eine musikalisch-künstlerische Vermittlungsarbeit durch Selbermachen wirklich funktionieren kann. Ich habe viel gelernt und immer wieder danach in den Schulen festgestellt, wie unglaublich wichtig dieses Selbermachen von Musik ist, um Musik zu verstehen. Wenn die Schülerinnen und Schüler anfangen, Musik zu machen und das entsprechend geleitet wird, kann man deutlich merken, wie ihre Auseinandersetzung damit von Mal zu Mal besser wird. Über dieses Selbermachen verbessert sich auch das Beurteilen von und das Sprechen über Musik. Und dann kommen auch viele gute Fragen, beispielsweise: »Was ist experimentelle Musik?«, »Warum schrieb Arnold Schönberg Zwölftonmusik oder Luigi Nono serielle Musik?« oder »Warum genügt den Komponisten die Tonalität nicht mehr?«. Daraus entstehen wunderbare Diskussionen.

DW: Ich zitiere hier gerne einen Satz von Simon Rattle. Er hat einmal den Job des Dirigenten mit dem Job eines Fußballtrainers verglichen und gesagt, wer noch nie gegen einen Ball getreten hat, weiß nicht, wie sich ein dreidimensionaler Raum anfühlt, er oder sie hat das noch nie gespürt. Das gleiche lässt sich über das Tanzen sagen, über den Klang und über alles, was eine physikalische Bewegung und eine Dreidimensionalität hat.

SF: Wieso braucht es für diese Art der Vermittlung Leute vom Ensemble Modern?

DW: Weil wir große Lust dazu haben und uns diese Arbeit ein wichtiges Anliegen ist. Wir reden und arbeiten mit den Schülerinnen und Schülern immer auf Augenhöhe, ebenso mit den Studierenden im IEMA-Ensemble. Wir behaupten nie, dass wir es besser können, sondern wir begeben uns zusammen auf eine Suche. Bei den Education-Projekten fangen wir gemeinsam bei null an, haben aber natürlich unser Wissen über Bernd Alois Zimmermann oder Karlheinz Stockhausen oder Birgitta Muntendorf im Hinterkopf.

SF: Aber warum genau ihr? Es gibt ja auch Musiklehrerinnen und -lehrer?

DW: Natürlich, aber der Unterricht ist viel zu verschult.

UD: Es ist ein Plus, dass wir eben keine Lehrerinnen und Lehrer sind, dass wir von außerhalb kommen und gewisse pädagogische Methoden nicht anwenden müssen. Wir müssen zum Beispiel keine Noten vergeben.

DW: Wir müssen auch keinen vorgegebenen Stoff abarbeiten. Wir müssen den Schülerinnen und Schülern nicht zeigen, wie Mauricio Kagel komponiert hat, sondern wir machen es einfach mit ihnen, und auf einmal kommt so etwas Ähnliches wie Kagel heraus. Das ist ein riesengroßer Unterschied zum üblichen Unterricht.

UD: Um einmal ganz praktisch an zwei Beispielen zu zeigen, wie so ein Workshop bei mir aussehen kann: Zum einen machen wir zu Beginn als Icebreaker verschiedene Warmup-Übungen, um so von Anfang an eigene Musik zu generieren. Hier eignet sich zum Beispiel Body Percussion. Zum anderen höre ich mir in einer Schule, die ein Schulorchester hat, zuerst an, was sie machen, welches Repertoire sie haben. Und von diesem Punkt aus arbeite ich mit ihnen weiter. Sie fühlen sich dabei wohl, weil alle ihren Platz im Orchester haben. Über die Zeit mische ich das aber so auf, dass niemand mehr da sitzt, wo er oder sie sonst sitzt, oder nur noch die altbekannten Phrasen spielt. Ich glaube, das ist ein Vorgang, den alle gut nachvollziehen können. Wir kommen von außen und führen die jungen Menschen über eine gewisse Grenze zu etwas anderem, was sie nicht kennen. Das finde ich ganz toll.

SF: Arnold Schönberg, mit dessen ›1. Kammersinfonie‹ das Ensemble Modern sein allererstes Konzert 1980 in Köln eröffnet hat, notierte als Widmung in sein Lehrbuch Harmonielehre: »Das habe ich von meinen Schülern gelernt.« Was lernt ihr für euch in den Education-Projekten?

DW: Ich erinnere mich an ein Projekt mit Serialismus als Thema. Ich habe den Schülerinnen und Schülern gezeigt, wie eine Zwölftonreihe geht, was es dabei für Gesetzmäßigkeiten gibt und wie sich diese im Serialismus verschärft haben. Und dann fingen die Kinder selbst an, solche Sachen aufzuschreiben und umzusetzen. Und das mit einer so schönen spielerischen Leichtigkeit, dass ich baff war, wie unkompliziert das sein kann. Ich habe das damals während des Studiums als total kompliziert kennengelernt und das abstrakte Denken anfangs als sehr schwer empfunden. Viele Jahre später spiegelt sich das plötzlich in Leichtigkeit wider, die mich wahnsinnig überrascht und ergriffen hat. Die Schülerinnen und Schüler haben serielle Prinzipien mit ihren Storys verbunden, und das war sehr schön.

UD: Bei mir sind es vor allem zwei Sachen. Ich lerne ganz viel aus dem Konzert, mit dem eine Arbeitsphase beschlossen wird, während dem oder nach dem man merkt, das haben wir jetzt gemeinsam gemacht. Das ist ein wahnsinniger Glücksmoment. Das andere beginnt schon vorher und ist für mich ein rein zwischenmenschliches Phänomen: Ich komme in eine mir völlig fremde Situation mit so vielen jungen Menschen, und alle, auch ich, sind mehr oder weniger unzulänglich. Es gibt ja immer sehr verschiedene Leute. Anfangs wende ich sehr viel Energie für das neue Projekt und besonders für die Mitmachenden auf, das ist oft auch recht anstrengend, aber irgendwann stellt sich so eine, ich weiß nicht, wie ich es anders nennen könnte, eine Vertrautheit, vielleicht eine Art Liebe ein. Und das kommt wie von Zauberhand. Ab diesem Zeitpunkt geht es nur noch darum, wie wir alle möglichst gut Musik miteinander machen.

SF: Und die Kompositionen in den Schulprojekten entstehen immer vor Ort mit den Beteiligten? Ihr bringt keine mit?

DW: Genau. Ich nenne das improvisiertes Komponieren. Aus der gemeinsamen Improvisation, aus dem gemeinsamen Nachdenken darüber und spielerischen Impulsen entwickelt sich irgendwann das Stück, das man gemeinsam performen will und das jeder verinnerlicht hat.

SF: Gleichwohl beginnt ja alles mit einem ersten Klang, wie auch immer dieser lautet.

DW: Mein erster Sound, mein erster Icebreaker ist immer »pusch – pusch«. Das ist so ein Klang, der dann immer weitergegeben wird. Zum Beispiel habe ich bei einem Projekt, in dem Hanns Eislers Stück ›14 Arten, den Regen zu beschreiben‹ das Thema war, den Beteiligten im Voraus nur gesagt, dass jeder von ihnen auf dem Handy einen Film mitbringen soll, der Regen zeigt. Und dann haben wir Filmmusik gemacht.

SF: Uwe, hast du auch so eine Lieblingsinitiale?

UD: Ich weiß vorher nie, was ich mache. Ich versuche immer, die jeweilige Situation zu erfassen. Das ist für mich wesentlich.

SF: Profitiert ihr bei euren Education-Projekten auch von den Erfahrungen, die ihr im seit Anfang an basisdemokratisch organisierten Ensemble Modern gesammelt habt?

DW: Ich glaube schon. Das ist sowieso das A und O, speziell für die neue Musik. Das Repertoire, das wir uns aufgebaut haben, wäre hierarchisch organisiert nicht möglich gewesen.

SF: Eure Education-Erfahrungen gebt ihr auch an die Studierenden des IEMA-Ensembles weiter.

DW: Ja, das gehört seit einigen Jahren als Modul zum Ausbildungsplan der IEMA-Studierenden, die heute auch schon etwas Vorwissen haben, da auch die Musikhochschulen den Vermittlungsaspekt stärker thematisieren. Ich möchte auch betonen, dass wir den Education-Bereich in der IEMA-Ausbildung für überaus wichtig halten. Zum einen für die Schülerinnen und Schüler, die so einen ganz anderen, einen körperlichen, einen »Selbermachen-Zugang« zur Musik finden können. Zum anderen weil diese Education-Kompetenz heute ein Mitbestandteil des Musikerberufes ist – egal ob du nach dem Studium ins Orchester gehst oder frei solistisch oder im Kollektiv arbeitest. Du musst in der Lage sein, auch Vermittlungsaktivitäten umsetzen zu können. Und dafür musst du Tools in deinem Werkzeugkasten haben.

SF: Wir haben bisher über Education-Projekte für Kinder und Jugendliche gesprochen, denn in diesen Altersklassen finden auch die meisten solcher Unternehmungen statt. Aber wie sieht es mit der Education-Arbeit für Erwachsene aus, mit Laien im fortgeschrittenen Alter?

DW: Das haben wir vereinzelt gemacht, beispielsweise mit unseren ›connect‹-Projekten, bei denen das Publikum beteiligt ist und mit einfachen Alltagsgegenständen beim Konzert mitmusiziert. Das schafft eine ganz andere Wahrnehmung von Musik.

SF: Das denke ich auch. Neue Musik braucht nach wie vor und vielleicht derzeit verstärkter als in den vergangenen Jahren engagierte »Lautsprecher«, die nicht unmittelbar zur Szene der neuen Musik gehören, die aber Lust an ihrer ästhetischen Neuigkeit, Vielfalt und Substanz haben und sich trauen mitzumachen. Erfahrungen beim Selbermachen, eigene Laut-Äußerungen könnten den Weg dahin ebnen. Euch beiden vielen Dank für das Gespräch.