›Der goldene Drache‹

Ein Gespräch mit Péter Eötvös

2010 wurde das Drama ›Der Goldene Drache‹ von Roland Schimmelpfennig zum Theatertreffen eingeladen und bei der Kritikerumfrage von ›Theater heute‹ zum Stück des Jahres gekürt. In kurzen Episoden erzählt Schimmelpfennig von den Schattenseiten der globalisierten Welt, von Ausbeutung, Gier, Brutalität. Im Zentrum steht der Asia- Imbiss ›Der Goldene Drache‹ und ein illegal im Land lebendes chinesisches Geschwisterpaar, das um seine Existenz kämpft. Nun hat Péter Eötvös gemeinsam mit dem Ensemble Modern, das mit ihm seit den frühen 1980er Jahren verbunden ist, diesen Stoff für sein neues gleichnamiges Musiktheater ausgewählt, das am 29. Juni 2014 unter seiner Leitung mit dem Ensemble Modern im Bockenheimer Depot uraufgeführt wird und in sechs weiteren Aufführungen unter dem Dirigat von Hartmut Keil im Juli zu erleben ist. Als weitere künstlerische Partner wurden die Regisseurin Elisabeth Stöppler, der Bühnenbildner Hermann Feuchter und die Kostümbildnerin Nicole Pleuler gewonnen. Roland Diry (RD) vom Ensemble Modern sprach mit Péter Eötvös (PE) über Form und Wirkung des zeitgenössischen Musiktheaters im Allgemeinen sowie über die Annäherung an das Libretto ›Der Goldene Drache‹ und dessen Umsetzung.

RD: Wir kennen uns nun seit über 30 Jahren. Am Anfang kannte ich dich ausschließlich als Dirigenten, dann immer mehr auch als Komponisten; auch als perfekten Organisator. Nun existiert auch noch die Péter Eötvös Stiftung ...

PE: Es bleiben immer drei Funktionen: Komponist, Dirigent und Lehrer. Die Lehrtätigkeit ist sehr wichtig. Sie ist eine Art Familientradition. Mein Großvater war Musiklehrer; er hat verschiedene Instrumente gespielt und alle unterrichtet: Geige, Kontrabass, ich glaube auch Cimbalom, Klarinette. Das kommt wahrscheinlich daher, dass er in einer kleinen Stadt unterrichtet und alle Instrumente ausprobiert hat. Musik ist Musik. Er hat auch Chöre dirigiert, er war wirklich ein Allround-Musiker. Meine Mutter war Pianistin und eine leidenschaftliche Lehrerin. Viele hundert Studenten haben bei ihr studiert und in den 1950er und 60er Jahren hat sie viele Geiger begleitet. Ich bin in diese Atmosphäre der Lehrtätigkeit hineingewachsen. Eines Tages bat mich meine Mutter – ich war zwölf Jahre alt –, eine Klavierstunde zu übernehmen. Das Unterrichten hat mir schon damals sehr gut gefallen. Aber mein Hauptinteresse war von Anfang an das Komponieren. Mit vier, fünf Jahren konnte ich schon Noten schreiben, früher als Buchstaben. Ich mochte es über alles, diese kleinen zwetschgenförmigen Notenköpfe zu malen, das war damals ein Erlebnis für mich. Ich malte so viele Notenköpfe wie nur möglich, es war wie ein Kinderspiel. Ich hatte schon damals ein absolutes Gehör, und es hat mir große Freude bereitet, dass ich den gerade gemalten Ton vorsingen und auf dem Klavier vergleichen konnte. Ich habe lange Jahre auch im Kinderchor gesungen, ich war der »Diapason«. Mit fünf Jahren habe ich begonnen Klavier zu spielen, und mein damaliger Lehrer hat mich sehr früh mit der Musik von Béla Bartók bekannt gemacht.


RD: Du hast dann an der Franz Liszt Musikakademie in Budapest studiert ...

PE: Ja, 1958 hat mich Kodály in die Musikakademie aufgenommen, ich war vier Jahre jünger als meine Kollegen. Die Prüfung war sehr streng, aber anscheinend habe ich das gut bestanden. Allerdings muss ich sagen, dass ich nicht genau wusste, was ich tue. Denn meine Mutter gab vor, es wäre eine Aufnahmeprüfung für das Gymnasium, und ich fragte: »Aber warum muss ich da Klavier spielen?« – »Weil das ein Musikgymnasium ist. Du musst auch Klavier spielen, musst zeigen, was du kannst.« Und erst nachdem ich aufgenommen wurde, hat sie mir gesagt: »Naja, jetzt bist du in der Akademie.« – »Nein, ich bin im Gymnasium!« – »Nein, nein, das war schon die Akademie!«


RD: ... Guter Trick.

PE: Ein sehr guter Trick. Sie war eine sehr gute Pädagogin. Anfangs, mit 16, 17, war ich sehr aktiv als Komponist, allerdings im Gebrauchsmusik-Bereich. Ich habe an vielen Theatern gearbeitet, sehr viel Filmmusik geschrieben, ich fand das wunderbar.


RD: Existieren aus dieser Zeit noch Partituren?

PE: Zum Teil, auch einige Aufnahmen. Durch das Komponieren von Filmmusik kam ich in Kontakt mit Studioaufnahmen, Mikrofonen, Lautsprechern. Alles, was ich komponiert habe, habe ich über die Kinoleinwand gehört, das war für mich selbstverständlich.


RD: Das heißt, du hast ganz früh deine Musik zu Bildern erfunden?

PE: Ja, zu Bildern und zu Situationen. Es gab immer eine Geschichte, die mit Musik begleitet oder mit Musik vorbereitet wurde. Das ist auch so geblieben, ich habe wenig Kontakt mit der sogenannten »reinen« Musik ...


RD: Denkst du, dass dadurch deine Affinität zur Oper begründet wurde?

PE: Ich glaube, es ist die direkte Fortsetzung meiner früheren Tätigkeit im Theater. Zwischendurch habe ich eine sehr lange aktive Periode als Dirigent verbracht, in der ich einfach keine Zeit hatte zu komponieren. Meine erste Oper war dann ›Drei Schwestern‹; die Uraufführung 1998 war nicht nur musikalisch, sondern auch in Bezug auf das Libretto ein großer Erfolg. Seitdem habe ich sieben weitere Opern geschrieben.


RD: Was fasziniert dich nun besonders am Libretto von ›Der Goldene Drache‹? Und wie hast du daran gearbeitet?

PE: Ich habe das Theaterstück zuerst in Budapest auf Ungarisch gesehen, in einer glänzenden Regie. Die Schwierigkeit war zu verstehen, welche verschiedenen Rollen von einem Schauspieler gespielt werden. Es gibt nur fünf Darsteller, und jeder spielt zwei, drei verschiedene Charaktere. Dieses doppelte Rollenspiel ist gleichzeitig auch der Reiz des Stücks. Später habe ich eine andere Aufführung in der Regie von Roland Schimmelpfennig in Wien gesehen. Das fand ich viel trockener, schwieriger zugänglich. Ich selbst habe dann das Libretto während einer zweiwöchigen Schiffstour durchgearbeitet und nachvollzogen, wie oft eine Person vorkommt, welche Rolle zu welcher geführt wird, und ich war sicher, dass die Musik helfen kann, einen Charakter wieder zu erkennen. Ein Libretto besteht eigentlich immer aus der Vorstellung, wie ich es in der Musik entwickeln kann. Das hat mit der Länge zu tun, der Anzahl der Wörter, es kommt auf die Konsonanten an, auf die Vokale. Es ist sehr gut, wenn der Komponist – so wie das hier der Fall war – selbst ein Libretto zusammenstellen darf und kann, weil dann die Musik sofort in der Vorstellung entsteht.


RD: Was genau interessiert dich an der Handlung?

PE: Es wird eine komisch-dramatische Oper sein, da die Geschichte einerseits leicht zu sein scheint, andererseits aber auch sehr tief geht. Es geht um Einwanderer, die Situation der Illegalität; ein Thema, das immer sehr aktuell ist. Da ist ein Einwanderer, dem der Zahn weh tut, aber er besitzt keine Papiere, ist illegal im Land und kann nicht zum Arzt gehen, denn er existiert ja nicht. Und dieser chinesische Einwanderer, der kleine Junge, kommt in einem Restaurant unter, sucht seine verschollene Schwester, die schon vor ihm angekommen ist. Und das Tragische des Stücks ist, dass der Zuschauer beide auf der Bühne sehen kann, sie sich aber nicht treffen. Sie sind sich ganz nah, aber sie wissen bis zum Schluss nichts voneinander. Dieses harte Schicksal ist permanent präsent. Am Ende stirbt der kleine Junge und es folgt ein wunderbarer Monolog, die Wasserreise: Seine Leiche wird in den Fluss geworfen und macht eine lange Reise im Meer Richtung Norden. Sie wird vom Wasser immer weitergetragen, die Fische fressen das Fleisch von ihr herunter und es vergehen zwei Jahre bis das Skelett nach China kommt und dann sagt: »Jetzt bin ich zu Hause, schade, dass ich nur noch Knochen habe.« Dieser Wandel von der naiven Realität, von dem Zahnschmerz, bis zu dem Punkt, an dem sie selbst sagt »Ich bin nur ein Skelett«, ist eine große Qualität des Stücks. Der Zahn ist ein Symbol des Schmerzes, des Ausgeliefertseins, der Hoffnungslosigkeit. Nur eine Stewardess reagiert sensibel auf den Zahn, aber auch sie wirft ihn am Schluss ins Wasser.


RD: Hattest du schon bei den Aufführungen in Budapest oder Wien Assoziationen, wie etwas klingen würde z.B. bezüglich der Instrumentierung oder einer eventuellen Gesangslinie?

PE: Bei ›Der Goldene Drache‹ könnte ich das so nicht sagen. Es war nicht sofort etwas da, während ich im Theater saß, aber hinterher hat es sich immer stärker entwickelt. Eigentlich hat mich die Wiener Aufführung eher negativ beeinflusst; ich dachte, dass der Stoff zu kompliziert, zu nüchtern, zu eckig und strukturell zu komplex sei, um daraus eine Oper zu machen. Aber jetzt, nachdem ich das Libretto zusammengestellt habe, sehe ich die Vorteile des Textes. Man kann mit dem Stück ideal reisen, denn es sind nur fünf Sänger. Diese fünf Sänger wechseln ständig die Rolle, was für ein Publikum interessant ist, denn die Rollen sind sehr unterschiedlich. Die vielen komischen Elemente im Text sprechen durch den Humor das Publikum an, und daher kann man die dramatischen Stellen entsprechend tief gestalten, da danach wieder ein leichter Moment folgt. Ich habe das Ensemble auf die Grundbesetzung reduziert, auf 14 Musiker plus zwei Schlagzeuger. Damit kann ich eine sehr farbige Aufführung gestalten.


RD: Du hast jetzt schon verschiedene Aspekte im Libretto angesprochen. Es gibt das Soziale, Zwischenmenschliche, Alltägliche, Emotionale und vor allem in der eingebetteten Fabel über die Ameise und die Grille auch das Triebhafte. Dieser ›Goldene Drache‹ existiert ja überall in der Gesellschaft, in der Welt. Wo siehst du dich in der Gesellschaft?

PE: Wir haben im Moment in Ungarn schwere Gesellschaftsprobleme. In der Gesellschaft habe ich eine beobachtende Position, das heißt nicht, dass ich nicht engagiert bin, aber ich bin kein Straßenkämpfer. In meinen Opern setze ich mich mit viel diskutierten Themen wie der Homosexualität, der Emanzipation der Frauen wie z.B. in ›Angels in America‹ und ›Paradise reloaded (Lilith)‹ oder mit dem Exorzismus in ›Love and Other Demons‹ auseinander und beziehe künstlerisch klare Standpunkte.


RD: Nun eine ganz andere Frage: Bei einer Orchesterpartitur kann der Komponist mit relativ klaren Zeichen seine Vorstellungen notieren. Bei einer Oper gibt es zusätzlich eine ganz anders zu gestaltende Ebene. Wie gibst du als Komponist in dieser Gattung möglichst klare Anweisungen an die Interpreten?

PE: Mein Problem ist, dass ich als Komponist zu präzise Vorstellungen habe. Das kommt daher, dass ich selbst auch Ausführender – Dirigent und Musiker – bin und bis zu den letzten Artikulationsfeinheiten bestimmen möchte. Wenn ich zwei, drei Töne denke bzw. schreibe, weiß ich sofort, wie das gestaltet werden soll, d.h. die Gestaltung ist schon mitkomponiert. Die erste Frage ist, ob die schriftliche Kommunikation präzise genug ist. Die nächste Frage, ob der Interpret es so umsetzt, wie ich das gedacht habe. Die Gesangsstimme behandelt man ganz anders als die Instrumente. Im dynamischen Bereich gebe ich nur an, ob ich die Situation leise oder laut gedacht habe. Die Ausführungsdynamik hängt vom gegebenen Moment ab, sie entsteht während der Proben.


RD: Was ist in diesem Zusammenhang das Besondere bei einer Opernproduktion?

PE: Bei der Oper kommt neben dem Dirigenten und den Interpreten ja noch ein Regisseur hinzu. Ich gebe den Regisseuren relativ viele verbale Instruktionen, die im Zusammenhang mit meinen musikalischen Vorstellungen stehen. Wenn sie nicht beachtet würden, wenn sie gegen die musikalischen Tendenzen realisiert würden, dann wäre ein Widerspruch auf der Bühne, der den aufmerksamen Zuschauer verwirren kann. Besonders schwierig bei Uraufführungen ist, dass sie möglichst das darstellen sollten, was geschrieben ist. Eine Veränderung oder ein Konzeptionsblickwechsel ist erst nach der dritten oder vierten Produktion möglich.


RD: Wenn wir einmal verschiedene Ebenen betrachten, z.B. einen Text, dann dessen Umsetzung als Schauspiel und dann als Film. Würdest du zustimmen, dass die Oper der Ebene des Films entspricht?

PE: Ich würde noch eine Stufe zurückgehen, auf das Hörspiel. Gehen wir davon aus, ein Schriftsteller schreibt ›Der Goldene Drache‹, daraus wird dann ein Hörspiel gemacht. Und wir hören dieses Hörspiel und haben die Freiheit, uns in unserer Vorstellung die physische Realität dieser Personen zu bilden. Die nächste Stufe wäre die Theaterbühne. Die Freiheit, die wir beim Hörspiel hatten, wird jetzt schon begrenzt. Die Dialoge sind hier direkt mit Aktionen, Bewegungen, Farben, Personen verbunden, und was wir hören ist schon eine Stufe weniger am Text als in der Hörspielfassung, weil sich bestimmte Sachen durch das Optische konkretisieren. Jetzt käme die Oper als nächste Stufe. Die Musik kommt dazu und hat die Fähigkeit, den Zuhörer in einen bestimmten Gefühlszustand zu bringen. D.h. ich kreiere eine Musik, die mir schon voraussagt, in welcher Gefühlslage ich das Bühnengeschehen beobachte. Ich beschreibe nicht die Bühne, sondern ich bringe die Zuschauer in einen bestimmten Zustand.


RD: Du nimmst Einfluss auf den Zuhörer.

PE: Absolut, ja. Jedes kleine Detail beschäftigt mich während der Komposition: das Licht, die Räume, die Bewegungen. Die Musik ist die Summe dieser Elemente. Die Grundlage für mich ist nicht nur das Libretto, sondern die vollständige literarische Quelle. Die Musik spiegelt die vollständige Handlung wider, deswegen kann ich die Dialoge in der Opernversion verkürzen. Ein großer Teil dessen, was das Schauspiel nur mit Wörtern ausdrücken kann, ist bereits in der Musik vorhanden. Die Bühnenhandlung braucht immer einen bestimmten Bogen, einen klaren Ablauf. Beim Film ist es möglich, dass wir durch einen Schnitt in eine veränderte Kulisse sofort in einer anderen Situation sind. Heutzutage können wir uns erlauben, dass wir ab und zu auch auf der Opernbühne filmische Schnitte machen. Ich versuche z.B. die Kameraeinstellungen – eine breite Landschaft aus der Entfernung, ganz nahe »au premier plans«, sogar Zoom-Effekte – auch auf der Opernbühne musikalisch zu gestalten.


RD: Lieber Péter, vielen Dank und HAPPY BIRTHDAY!