»Es wird eine sehr menschliche Aufführung werden«
Ein Gespräch mit Carsten NicolaiManche nennen ihn einen »Avantgarde-Elektro-Tüftler«, andere einen Elektronikpionier, und seine Musik wird mal als Minimal Techno charakterisiert, mal als Retrofuturismus oder psychedelisch-amorphe Soundkunst: Carsten Nicolai – man kennt ihn vielleicht auch nur unter seinem Pseudonym Alva Noto – ist seit den 90er Jahren einer der bekanntesten Köpfe in der Szene der elektronischen Musik. Gemeinsam mit dem japanischen Komponisten und Pianisten Ryūichi Sakamoto komponierte er 2015 den Soundtrack zu ›The Revenant – Der Rückkehrer‹ (mit einer Golden-Globe-Nominierung in der Kategorie ›Beste Filmmusik‹). Der 1965 in Chemnitz geborene Künstler arbeitete 2007 zum ersten Mal mit dem Ensemble Modern zusammen, sie kreierten das multimediale Werk ›utp_‹ anlässlich des 400-Jahre-Jubiläums der Stadt Mannheim im dortigen Nationaltheater. Auch bei der Ruhrtriennale 2012 standen Nicolai, Sakamoto und die Mitglieder des Ensemble Modern gemeinsam auf dem Podium. Im Rahmen der Frankfurter Positionen wird im Frühjahr eine Übertragung des kürzlich erschienenen Nicolai-Albums ›Xerrox Vol. 4‹ auf das Instrumentarium des Ensemble Modern realisiert, mit Alva Noto als Solisten. Das multimediale Werk, das Musik mit Video- und Lichtinstallationen verknüpft, wird eigens auf den Raum, in diesem Fall das Frankfurt LAB, abgestimmt werden. Stefan Schickhaus hat mit Carsten Nicolai aka Alva Noto über dieses ungewöhnliche Projekt gesprochen.
Stefan Schickhaus: Als bildender Künstler, der sich mit Grafiken und Installationen beschäftigt, heißen Sie Carsten Nicolai, als Musiker nennen Sie sich Alva Noto. Ist Ihr Pseudonym so zu verstehen, dass Sie die beiden künstlerischen Tätigkeiten streng trennen?
Carsten Nicolai: Ich trenne die nur nach außen hin. Alva Noto ist so etwas wie mein Bandname, darunter produziere und vertreibe ich meine Musik. In der Szene der elektronischen Musik, in der ich Mitte der 1990er begonnen habe zu recorden, war und ist es üblich, dass man nicht nur einen Namen hatte, sondern sehr viele. Mit jeder Release wurde quasi der Künstlername neu erfunden. Ich kenne da jemanden, der über 60 verschiedene Alter Egos hat. Es hat wohl auch damit zu tun, sich wie ein Schauspieler in verschiedene Rollen hineinzudenken. Ich selbst begann als Noto, und erst ein paar Jahre später wollte ich das konkreter personifizieren und habe Alva quasi als Vornamen hinzugefügt.
StS: Kann es auch damit zusammenhängen, dass elektronische Musik für etwas Überpersönliches steht, weil ja nicht von Menschenhand gemacht? Hart gesagt: Algorithmus statt Seele? Und deswegen auch der Avatar-Name?
CN: Das ist für mich ganz anders. Da ist ganz viel Seele in meiner Musik. Je länger ich das Projekt Alva Noto betreibe, desto emotionaler werden die Sachen für mich. Nehmen Sie ›Xerrox Vol. 4‹: Das ist eines der emotionalsten Alben, die ich überhaupt geschrieben habe – oder komponiert oder recorded oder wie man es auch nennen will. Das geht für mich schon ganz tief.
StS: Die ›Xerrox‹-Reihe begann 2007 und erinnert in ihrem Titel nicht zufällig an das fotoelektrische Vervielfältigungsverfahren der Xerografie und an Kopierer der Marke Xerox. Gab es keinen Markenrechtsstreit um den Namen?
CN: Ich habe diesen kleinen Fehler eingebaut, das doppelte »r«, das auch für »Error« steht. Es geht ja um einen Kopiervorgang mit einem Fehler. Der Fehler ist es, der aus dem Ausgangsmaterial – erst waren es geborgte oder manipulierte Samples, mittlerweile schreibe ich dafür Melodien – die Musik entstehen lässt.
StS: Wie man ein Bild unter einen Xerox-Kopierer legt und immer wieder die Kopie kopiert, so verändern Sie elektronisches Tonmaterial durch Kopieren. Wie entstehen bei digitalen Kopien überhaupt Fehler?
CN: Ich habe in meinem Studio zusammen mit einem Programmierer eine Software entwickelt, die einen Kopiervorgang ausführt mit einer ganz leichten Verschiebung der Auflösungszahl. Dieser Vorgang wird dann 20 oder 30 Mal wiederholt. Eine CD zum Beispiel wird gesampelt mit einer Frequenz von 44,1 kHz und 16 Bit. Wenn man diese beiden Einstellungen leicht manipuliert, werden Informationen weggenommen und die Software beginnt, die Lücken zu interpolieren. Der Algorithmus denkt sich nun etwas aus, um die Lücken zu füllen. Und wird in gewisser Weise kreativ. Ein Mechanismus der Verfremdung als kreatives Potenzial, das ist es, was mich daran interessiert.
StS: Die Ausgangsdaten waren bei den ersten ›Xerrox‹-Alben Samples, für ›Xerrox Vol. 4‹ aber sind es eigene »Melodien«, sagten Sie. Ein irritierender Begriff im Bereich der elektronischen Musik, oder?
CN: Nennen wir es: wiedererkennbare Tonfolgen. Oder harmonische Abläufe. Wenn man etwas unter einen Kopierer legen möchte, braucht man ja zuerst ein wiedererkennbares Bild.
StS: In einem Interview sagten Sie, durch die Zusammenarbeit mit Ryūichi Sakamoto hätten Sie die »Angst vor der Melodie« verloren. War bis dahin die Melodie etwas, was in elektronischer Musik auf keinen Fall passieren durfte?
CN: Ja, das war schon so etwas wie eine Regel. Es ging ja um eine Negation dessen, was klassischerweise Musik ausmacht. Mir ging es damals allein um Sound, und das ist eine Qualität, die mich nach wie vor sehr interessiert. Die Notation von Musik hielt ich für absolut überkommen, weil hier nur Tonhöhen dargestellt werden, Intervalle, Lautstärke. Nicht aber der Sound selbst. Da wollte ich ansetzen, radikal mit den Traditionen brechen und etwas komplett Neues kreieren. Die Zusammenarbeit mit Ryūichi Sakamoto hat mir gezeigt, dass ich mir hier vielleicht selbst zu starke Regeln auferlege und damit zu dogmatisch werde. Orthodoxes Verhalten engt letztlich ein.
StS: Jetzt soll es eine Instrumentierung von ›Xerrox Vol. 4‹ für das Ensemble Modern geben, also eine Adaption rein elektronisch generierter Musik für ein analoges Instrumentarium. Haben Sie selbst Erfahrung mit realen Instrumenten?
CN: Ich habe drei, vier Jahre lang klassische Konzertgitarre gelernt. Die Qualität eines solchen Instrumentes ist schon ein kleines Universum. Ich finde natürlich das noch viel größere Universum in der elektronischen Musik, aber die kulturelle Bedeutung klassischer Instrumente ist schon ungeheuer. Eine solche kulturelle Verortung kann die Elektronik gar nicht haben.
StS: Im Jahr 2000 hatte das Ensemble Modern die Synclavier-Klänge Frank Zappas auf seine Instrumente übertragen. Kann man das mit dem vergleichen, was jetzt für ›Xerrox Vol. 4‹ ansteht? Oder wie muss man sich den technisch-organisatorischen Ablauf vorstellen? Wie entsteht eine Ensemble-Partitur?
CN: Ich habe für ›Xerrox Vol. 4‹ bereits zahlreiche klassische Instrumente eingesetzt, eben als elektronisch erzeugte Softsynths, die ich über ein Keyboard eingespielt habe. Also haben wir da schon eine Grundlage für die Übertragung. Die wird aber sicher nicht eins zu eins erfolgen. Vielmehr geht es darum, die akustischen Vorzüge der Instrumente hervorzukitzeln, sodass das Ganze eine neue, ganz andere Qualität bekommt. Es wäre ja auch ein erfolg- und vor allem sinnloses Unternehmen, lediglich so nah wie möglich an das Elektronische herankommen zu wollen. Gerade die Schlagzeuger werden sehr experimentell vorgehen, da werden wir spannende Äquivalente für die Klänge finden. Über diese Experimentierfreude des Ensemble Modern freue ich mich sehr.
StS: Wo könnten die Musikerinnen und Musiker an Grenzen stoßen, weil Ihre Musik nicht auf den menschlichen Faktor Rücksicht nimmt, einfach weil sie es im Elektronischen nicht muss?
CN: Als elektronischer Musiker habe ich die fantastische Möglichkeit, jeden Parameter beliebig nachzujustieren. Bei einem live aufgeführten Stück mit »echten« Musikern kann nie alles zu hundert Prozent funktionieren. Es wird in Frankfurt also eine sehr menschliche Aufführung werden. Es werden Dinge passieren, die einfach nicht kontrollierbar sind.
StS: Ende Februar 2020 haben Sie ›Xerrox Vol. 4‹ fertiggestellt, Corona hatte da noch nicht Pandemie-Status, und das kulturelle und soziale Leben zumindest in Deutschland war noch ohne Einschränkung. Trotzdem, sagen Sie, ist ›Xerrox Vol. 4‹ so etwas wie der Soundtrack zur Pandemie. Warum?
CN: Diese Musik hat ja doch etwas sehr Melancholisches. Sie ist eine stille Musik, nicht für die Masse, sondern stark individuell. Für die Zeit, wenn wir uns im Winter zurückziehen. Wenn wir uns auf uns selbst besinnen. Und das Thema Isolation und das Sich-Zurückziehen aus dem Öffentlichen ist ja Teil dieser Pandemie. Entstanden ist die Musik vor dem Corona-Stillstand, erschienen ist sie dann genau mit dem ersten Lockdown.
StS: Der Begriff Isolation hat ja einen eher negativen Beiklang, wobei die Musik von ›Xerrox Vol. 4‹ durchaus Zufriedenheit, Geborgenheit ausstrahlt und nicht die Kälte der Vereinzelung.
CN: Für mich ist Isolation etwas Schönes. Weil ich Zeit habe, mich um mich selbst zu kümmern. Gedanken verfolgen oder Arbeiten ausführen. Wenn ich kreativ sein möchte, brauche ich Isolation und Rückzug und keine Begegnungen. Für mich bedeutet Isolation Konzentration.